Pling

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- Krankheit der Stunde: Glasauge -

„Pling", ertönt es. Leise, aber hörbar. Und dann wieder, und wieder. Ich bin gerade etwa vier Jahre alt und stehe auf dem Dachboden des Mietshauses, in dem wir wohnen. Ich helfe meiner Mutter dabei, das Treppenhaus zu fegen, oder zumindest tu ich so, als könnte ich in dem Alter schon irgendeine Hilfe sein.

Ich schaue verwundert, was denn da so ein Geräusch macht, und sehe eine halbe Hohlkugel, die die Treppe herunterschlittert, Stufe für Stufe. Auf der Zwischenetage hat sie genau den richtigen Winkel, damit sie gegen die Bande - eine Plastikfußleiste - stößt und dann auch den nächsten steinernen Treppenteil in Angriff nehmen kann. In meiner Erinnerung heute kommt sie noch drei Stufen weit, bevor sie endlich liegen bleibt.

Erst jetzt begreife ich, was ich da wirklich gesehen habe. Mein Glasauge ist aus der Augenhöhle gefallen, ohne das ich es auch nur gemerkt hätte. Es ist nicht nur fast meine gesamte Körpergröße heruntergefallen - zu dem Zeitpunkt zugegebenermaßen noch nicht sehr viel -, sondern hat auch noch etwa 11 weitere kleine Stürze überlebt.

Es ist noch heile, zumindest auf den ersten Blick. Das Glasauge, eine Handarbeit, die für jeden Menschen jedes Mal wieder völlig persönlich angepasst wird, der im Grammpreis teuerste Glasgegenstand der Welt, der so unglaublich schnell kaputt gehen kann, hat mal eben fast ein ganzes Stockwerk ohne mich überwunden.

Ich bin noch heute, 24 Jahre später, davon beeindruckt. Der Anblick war einer der Erhebendsten in meinem Leben. Diese Präzision, wie es gegen die Leiste stößt und so eine 90-Grad-Kurve ohne Probleme überwindet.

Umso größer ist die Enttäuschung, dass ich das Auge dennoch hinterher nicht mehr nutzen durfte. Meine Mutter verbat es mir. Aus Angst, durch den Sturz hätten sich vielleicht doch Mikrorisse gebildet und das Auge könnte dann in meiner Augenhöhle kaputt gehen. Außerdem hatte es durch den Sturz ja schon bewiesen, dass es nicht mehr richtig saß - denn von alleine rausfallen sollen Glasaugen nun wirklich nicht.

Aber ich war traurig. Und bin es noch heute. Dieses kleine Auge war ein Kämpfer. Es hat sich mutig ins Unbekannte fallen lassen und es hat überlebt. Erst meine Mutter wurde ihm zum Verhängnis.

Und irgendwie hat mich dieser kleine Moment, in Wirklichkeit nur wenige Sekunden, geprägt. Einerseits habe ich heute extreme Angst, dass mein Glasauge wieder herausfällt. Das kostet Geld und Nerven. Andererseits sah es aber unbeschreiblich cool aus, wie dieses kleine Auge über den Treppenabsatz glitschte. Seit dem mag ich das Geräusch, wenn etwas auf Stein fällt und ‚Pling' macht.

Unter drei AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt