- Krankheit der Stunde: Glasauge; Trigger: Eventuell Mobbing? Eher Peinlichkeit -
Gehen wir noch einmal zur Uni. Ich bin wahnsinnig aufgeregt. Wie immer, wenn ich ein Referat halten muss, doch heute ist es noch schlimmer als sonst. Denn ich halte im Kurs eines meiner Professoren ein Referat über sein Fachgebiet. Seine Spezialisierung. Ein Thema, bei dem selbst amerikanische Wissenschaftler ihn zitieren und zu dem er eine Reihe von über 20 Bänden geschrieben hat, die von der Antike bis zu einem Ausblick in die Zukunft reichen. Die Möglichkeit, spektakulär zu versagen, und das bei einer Koryphäe, ist also durchaus real.
Entsprechend habe ich mich noch mehr als sonst angestrengt. Sechzehn der siebzehn Quellen, die er dafür vorgeschlagen hat, habe ich gelesen und zusätzlich noch quasi Bonusmaterial. Den letzten vorgeschlagenen Text nur deshalb nicht, weil er gerade in der Bibliothek nicht verfügbar ist. Wozu der Kommentar meines Professors ist, dass ich mir den ja dann von einer anderen Uni per Fernleihe hätte zukommen lassen können. Stimmt ja auch, aber für nur drei CP die eine kostenlose Fernleihe pro Semester zu vergeuden, die man für die Hausarbeiten mit Sicherheit braucht? Wenn man, wie gesagt, sechzehn von siebzehn Quellen plus ein paar Extras hat? Nunja.
Noch nie habe ich so lange und hart an einem Referat gearbeitet, dabei gehöre ich generell zu denen, die drei Wochen im Voraus anfangen. Aber sechzehn Quellen, darunter mehrere komplette Bücher? Das hatte ich noch nie und werde ich im Studium auch nie wieder haben. Zum Glück.
Mir ist etwas mulmig, schon lange vorher. Der Professor gilt als schwierig. Er reißt oft das Referat an sich, und erzählt dann alles selbst. Gibt dann eine schlechte Note, weil er ja alles selbst habe erzählen müssen, ohne zu wissen, ob der Student das nicht doch noch vorgetragen hätte. Wenn er seine eigenen Noten am Ende des Jahres zu gut findet, setzt er einfach alle Studenten eine ganze Note schlechter. Und er macht oft frauenfeindliche Witze. Nicht anzüglich. Nur abwertend. Frauen hätten zum Beispiel keine Ahnung von Fußball, würden es nur schauen, um die jungen Männer anzuschmachten.
Dennoch versuche ich, Zuversicht zu bewahren. Was soll schon schiefgehen, denke ich mir? Ich habe mich vorbereitet. Habe alles gelesen, was ich finden konnte. Habe das Referat mit ihm extra vorher im Detail abgestimmt, ihm eine Woche vorher die komplette Präsentation geschickt und dann in der Sprechstunde durchgesprochen. Ich habe mit ihm ausgemacht, einen kleinen Themenblock rauszulassen, weil er selbst fand, dass dafür die Zeit nicht reicht und der Block einen ziemlichen Exkurs benötigen würde. Da der Vorschlag von ihm kam, kann das ja nicht mir angelastet werden, oder?
Ich baue also meinen Laptop auf, richte alles ein, beginne mit meinem Vortrag. Nervös, wie immer. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen. Ich hasse es, dass ich all die Geräusche um mich dennoch höre und sie mich ablenken. Der Autolärm der vielbefahrenen Straße auf der anderen Seite des Hauses. Das Getuschel der Leute im Kurs. - Hier, liebe Unis, wäre es schön, wenn ihr das erst neue Handyverbot in Kursen wieder aufhebt. Ich finde es nicht störend, wenn die Leute am Handy hängen. Im Gegenteil, dann können sie sich schriftlich austauschen, und stören die Vortragenden nicht.
Aber es scheint gut zu laufen. Bis ich an die Stelle komme, an der ich den Exkurs hatte machen wollen, im ersten Entwurf.
Plötzlich steht mein Professor auf, schneidet mir das Wort ab, kommt in die Mitte des Raumes und beginnt, darüber zu reden. Wie er einmal bei einer Konferenz zu genau dem Thema war. Doch nicht nur das.
"Ich hatte damals auch was mit einem Auge. Also nicht so schlimm, wie Sie ...", fällt der Satz, der mein Referat zerstört. Von nun an starren alle nur auf mein Auge, selbst, als er seine Anekdote zu Ende erzählt hat und ich wieder übernehmen darf. Aber ich fühle mich unwohl, noch nervöser. Natürlich wird das Referat furchtbar. Das schlechteste meiner gesamten Studienzeit, und neben der einen Klausur, durch die ich gefallen bin, auch die schlechteste Note, die ich je bekam.
Und ich bin das Gespräch der Uni. Denn ich bin vorher extra nicht mit meinen Behinderungen hausieren gegangen. Nur ein paar Freunde und meine Studiengangskoordinatorin wussten davon. Letztere, weil sie ein bisschen auf mich aufgepasst hat. Dass ich mich im Sommer nicht übernehme. Dass ich, wenn ich in der Uni umgekippt bin, nicht gleich in den nächsten Kurs gehe, sondern im bestmöglichen Fall nach hause.
Plötzlich aber sind da mehr Blicke und jeder weiß Bescheid. Oder glaubt, Bescheid zu wissen, denn mit mir redet keiner. Keiner fragt mich, was ich habe oder wie es mir damit geht. Sie starren nur. Teils neugierig, teils mitleidig, teils sogar voll Abscheu. Wieder einmal hat jemand meine Behinderungen in den Mittelpunkt gestellt. Diesmal, indem er mich vor meinen Kameraden bloßgestellt hat.
Egal, was ich tu, nichts ist gut genug, um nicht auf meinen Körper reduziert zu werden. Gleichzeitig habe ich so erst recht gelernt, so wenig Menschen wie möglich von meinen Behinderungen zu erzählen, die das gegen mich verwenden könnten. Und sicher nie wieder einen meiner Dozenten ins Vertrauen zu ziehen und um Hilfe zu bitten. Denn mit diesem einen Professor habe ich nie darüber geredet. Irgendwer muss ihm das gesteckt haben. Vielleicht aus guter Absicht, ja. Um dafür zu sorgen, dass der Lehrstuhl halbwegs Feingefühl zeigt? Das ist durchaus möglich, aber herausgekommen ist nur Demütigung vor einem ganzen, überfüllten Kurs.
Also versuche ich den Rest meines Studiums über, normal zu sein. Niemandem mehr einen Grund zu geben, sich auch nur zu fragen, ob etwas bei mir anders ist. Aber das ist nicht leicht, wenn man nicht völlig normal aussieht.
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Unter drei Augen
Non-FictionBiografisches aus dem Leben einer Schwerbehinderten in Deutschland. Anekdoten, Zahlen und Fakten. "Ich bin all das. Ich bin all meine Krankheiten. Die leichten und die schweren. Die, die nur in ganz bestimmten Situationen eine winzige Rolle spielen...