Freizeitgestaltung

11 1 0
                                    

- Krankheit der Stunde: Glasauge -

Aber nicht nur da, wo ich mit Menschen direkt zu tun habe, beeinflussen mich meine Behinderungen und Krankheiten. Auch in meiner rein persönlichen Freizeitgestaltung ist es leider nicht immer leicht. Und das nicht aus böser Absicht von irgendwem. Kein Firmenboss sitzt in seinem Stuhl, reibt sich die Hände, kichert manisch und fragt dann seinen Berater: „Wie können wir unser Produkt jetzt so umgestalten, dass wir möglichst viele Leute von der Nutzung ausschließen."

Sondern es liegt einfach nur daran, dass die Technik sich weiterentwickelt hat.

Denn mit einem Auge kann man zum Beispiel nicht 3D sehen. So ist es nun einmal. Schlimmer noch. Dadurch, dass ich nie ein zweites Auge hatte, habe ich es nie gekonnt und mein Hirn kennt es nicht. Es hat sich damit abgefunden, irgendwie Entfernungen anhand von Größenschätzungen zu errechnen. Wenn es in etwa weiß, wie groß der Ball ist, wenn er ganz nah ist, besteht die Möglichkeit, dass mein Kopf richtig rechnet und ich ihn auch treffe, wenn ich heranlaufe und ziele. Das klappt nach 28 Jahren Training und Erfahrung ganz gut. Es hat einige Bälle gebraucht, die mir auf die Nase knallen - teils leider sogar mit Absicht des Werfers. Aber mittlerweile merkt man mir beim Ballwerfen mit der Familie, beim Federball oder beim Fangen von Dingen, die man mir zuwirft, nicht mehr an, dass ich da anders herangehen muss, als Zweiäugige. Ich kann sogar mit Tüchern jonglieren - leider nicht mit Bällen, weil die schneller fallen als mein Hirn rechnen kann. Ich komme so ganz gut durch das reale Leben. Wenn ich nicht gerade wieder gegen ein Schild oder einen Pfahl laufe, der schlicht rechts von mir ist und den ich so einfach nicht sehen kann.

Problematisch wird es erst da, wo die Menschen versuchen, naturgemäß Zweidimensionales auf Bildschirmen auch für sich besser, realer, also dreidimensional darzustellen.

Es fing mit Computerspielen an. Hier sitzt mein etwa zwölfjähriges Ich gerade vor einem Computer. Ich bin ein riesiger Fan von Monkey Island, das ich durch eine liebe Freundin kennen lernen durfte - die mittlerweile tatsächlich professionell über Spiele berichtet. Sie verdient damit ihren Lebensunterhalt. Die Glückliche.

Und heute ist es soweit, wir haben Monkey Island 4. Jetzt erfahren wir, was passiert, nachdem Guybrush und Elaine geheiratet haben. Die Gouverneurin und der Pirat? Kann das gut gehen?

Wir starten das Spiel und ... mir wird schlecht und ich kriege Kopfschmerzen. Was ist denn aus meiner schönen Zeichentrickgrafik aus dem dritten Teil geworden? Alles wirkt so merkwürdig, so falsch. Aber ich lass mich davon nicht unterkriegen. Ich bin Guybrush Threepwood, ein mächtiger Pirat und dieser Bildschirm kann mich nicht besiegen. Er kann mich nur dazu zwingen, seeehr viele Pausen einzulegen, weil ich nach ein paar Minuten Spielen erst einmal mehrere Stunden liegen muss, bis das Dröhnen in meinem Kopf aufhört. Aber am Ende kämpfe ich mich da durch.

Die nächsten Jahre verlaufen ruhig. Ich spiele Sims 1 und 2, damit ist alles in Ordnung. Gut, bei Sims 2 kann ich nicht nah an die Figuren ranzoomen, sonst habe ich das selbe Problem, aber wenn ich von weit entfernt auf sie schaue, wirkt alles so herrlich zweidimensional. Wie auf einem Foto. Also wie in der Wirklichkeit - zumindest in meiner.

Mittlerweile bin ich 18 und zwei Freundinnen schlagen vor, ich könnte ja mal World of Warcraft testen. Sie würden mich dann auch mit zu Quests nehmen. Ich installiere es also, beginne die kostenlose Testphase und muss nach einer halben Stunde verzweifelt einen Eimer kuscheln. Mir ist so speiübel und alles dreht sich. Wer erfindet nur so einen Mist wie Tiefenschärfe. Oder Schärfentiefe?

Und so geht es schließlich immer weiter. Ich kaufe schon lange keine Spiele mehr und auch die, die ich aus der Bücherei ausleihe, kann ich nur kurz antesten und muss dann abbrechen. Heute wollen sie den Zweiäugigen alle möglichst realistische Grafik bieten. Und eure Realität ist nicht meine. Eure Realität überfordert meinen Kopf. Also kann ich, die zocken immer liebte, nicht mehr mithalten. Kein Teil einer Gemeinschaft sein, die mir einst so nah erschien.

Mit Spielen hört es aber leider nicht auf. Mittlerweile sind fast alle Filme in 3D. Natürlich gibt es davon auch immer noch zweidimensionale Ausgaben, aber ich wohne nicht in einer Millionenstadt. Kleine Städte mit nur einer Viertelmillion Einwohnern holen sich keine dieser seltenen 2D-Filmrollen. Ich habe bei einem der wenigen Filme, die mir wirklich wichtig waren - denn eigentlich hasse ich Kino eh - schon lange im Vorfeld bei unserem angefragt, ob sie nicht dieses eine Mal versuchen können, eine 2D-Rolle zu kriegen. Die Antwort war alles andere als sympathisch und man könnte sie mit einem schlichten 'Pech gehabt' zusammenfassen. Nur eben noch unhöflicher. Mitgefühl oder echtes Bedauern? Fehlanzeige.

Und jetzt? Jetzt gibt es schon Fernseher mit 3D. Experten schätzen, dass irgendwann auch die meisten Sendungen dafür nur noch so gedreht werden. 3D gehöre die Zukunft. Wenn es erstmal soweit ist, kann ich nicht einmal mehr fernsehen. Und ich gebe zu, ich habe echte Angst vor dem Tag. Ich verstehe, dass man dem Zuschauer möglichst viel bieten will. Aber was ist denn mit der Barrierefreiheit? Ich bin nicht die Einzige mit nur einem Auge? Und 3D kann in Wirklichkeit nur von einer Minderheit wirklich vollständig genutzt werden, weil schon ein leichtes Ungleichgewicht der Sehschärfe ausreicht, damit es eben kein so schönes Erlebnis ist. Damit auch Zweiäugige leichte Kopfschmerzen bekommen oder ihnen schwindlig wird.

Ich hoffe so sehr, dass endlich jemand einlenkt. Dass jemand dafür sorgt, dass wenigstens beides gleichberechtigt nebeneinander existieren kann.

Denn ich gönne jedem seinen Spaß. Ich finde es ja auch toll, was Technik heute alles kann. Nur bitte schließt mich nicht völlig aus. Lasst mir auch etwas. Die Spielewelt habt ihr mir schon verschlossen, lasst mir wenigstens mein Fernsehen.

Und dann sind da noch die Smartphones. Die neuesten Geräte entsperren sich jetzt durch Gesichtsidentifikation. Ich kriege alle sechs bis zwölf Monate ein neues Glasauge, das nicht immer gleich groß ist, und damit auch gleich mein ganzes Gesicht optisch anders aussehen lässt. Und dann sind da noch die Tage, an denen ich kein Auge tragen kann.

Wenn sich die Gesichtserkennung also als solch ein Mittel durchsetzt - sie wird gerade ja sogar schon statt Bargeld als Zahlungsart getestet -, und alle anderen Möglichkeiten vollends ersetzt, kann ich nichts mehr machen. Mit dem Handy Hilfe holen, wenn es mir schlecht geht? Kommunizieren? Wenn ich sehr sehr viel Pech habe und sich nur der Fortschritt durchsetzt, keine Alternativen angeboten werden, bin ich bald von allem ausgeschlossen, was zumindest die Freizeitgestaltung angeht. Und vielleicht sogar völlig aus der Gesellschaft, mehr als jetzt schon.

Unter drei AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt