Ein Dorn im Auge

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- Krankheit der Stunde: Vor allem Glasauge; Trigger: Mobbing, gezielte Verletzung -

Nun kann man mich also zumindest nicht mehr so leicht schlagen. Und den Jungen in der sechsten Klasse ist es zu langweilig, immer nur auf meinen Arm zu hauen. Da kriege ich dann vielleicht einen blauen Fleck, aber den krieg ich schon beim Volleyball, wenn mich der Ball erwischt. Das ist nicht so lustig, wie mich halb ersticken zu sehen.

Und auch die Treppe schubsen sie mich nicht mehr herunter. Ich bin ja gepanzert, ich würde mir eh nichts mehr tun können, außer vielleicht einem Arm- oder Beinbruch. Das ist also nicht mehr lustig.

Stattdessen suchen sie neue Möglichkeiten, mich zu quälen. Sie klopfen im Werkunterricht über mir ihre Schleifpapiere aus. Lassen die kleinen Holzspäne auf mich fallen, und das sogar vor dem Lehrer. Der nichts macht. Es ist der gleiche Lehrer, der auch schon im Sportunterricht bedauert hat, dass ich nicht auf die Sonderschule geschickt werden kann. Zwischen uns hat sich eine leidenschaftliche Feindschaft entwickelt, obwohl ich mit seinen Töchtern befreundet bin, die leider auf eine andere Schule gehen. Sie haben sogar einmal ihren Vater versucht zu überreden, dass er mir zumindest etwas Ruhe gibt. Aber nichts lässt ihn davon abbringen, mich spüren zu lassen, wie sehr er sich wünschte, ich würde nicht existieren. Langsam macht es mir wenig aus. Ich feuere einfach zurück. Jeder mit offenen Augen - auch nur einem - kann sehen, dass er seine Frau mit einer meiner Lehrerinnen betrügt. Ich mache deutlich, dass ich das durchaus merke. Jetzt hasst er mich noch mehr, aber was will er schon machen? Naja, wegsehen, wenn meine Klassenkameraden mich attackieren.

Wieder und wieder klopfen die Jungen ihre abgeschliffenen Holzreste über mir aus dem Schleifpapier. Wohl eher in der Hoffnung, dass das Ärger mit meinem Asthma gibt, aber nein, das Holz landet in meinem Auge. Dem echten.

Es tut unglaublich weh, einen Splitter im Auge zu haben. Mehr als im Finger. Jeder, der schon einmal ein Staubkorn oder eine Wimper im Auge hatte, weiß, wie unangenehm selbst die Dinge sind, die normalerweise Haut nicht verletzen können. Weil sie im Auge sehr wohl Verletzungen hinterlassen. Ein Splitter ist noch etwas gemeiner, bohrt sich richtig rein und steckt dann fest.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob der Lehrer dann endlich eingegriffen hat, oder ob ich von mir aus nach hause oder ins Sekretariat gegangen bin. Ich kann mich nur erinnern, dass ich sofort zum Augenarzt fahre, als Notfallpatient. Nicht von der Schule aus. Ist es nicht eigentlich die Pflicht der Schule, in solchen Fällen einen Direkttransport zu veranlassen, statt auf die Eltern zu warten?

Ich habe wohl noch Glück gehabt, denn nach einigen Minuten des Rauspuhlens findet mein Arzt nichts mehr. Alles ist raus. Nur ist die Hornhaut verletzt. Das kann sich entzünden, sagt er, ich könnte immer noch mein einziges Auge verlieren. Und ich bin geneigt, ihm zu glauben, denn gerade sehe ich nur noch verschwommen. Also auch, wenn meine Brille auf meiner Nase sitzt.

Also werde ich krankgeschrieben. Bekomme eine Augenklappe. Darf mehrere Tage das Auge nicht nutzen und soll es durchgängig geschlossen halten. So bleibt es feucht und die Verletzungen können wohl besser heilen.

Ich liege nur im Bett und überlege, ob ich schon Braille lernen sollte, die Blindenschrift. Nicht zum ersten Mal, immerhin ist mein gesundes Auge auch schon halb blind vor Kurzsichtigkeit. Aber nie zuvor habe ich es so sehr in Erwägung gezogen. Denn selbst, wenn dieses Mal wirklich alles gut ausgehen sollte, habe ich Angst, dass das nicht das letzte Mal war, dass die Jungs so etwas versuchen. Dass sie jetzt erst auf den Geschmack gekommen sind.

Am letzten Tag, an dem ich die Klappe tragen muss, kommt der Junge zu mir, dem ich das zu verdanken habe, und entschuldigt sich. Er meint es ehrlich, glaube ich, wurde nicht nur von seinen Eltern dazu gezwungen. Vielleicht hat er endlich begriffen, dass man Menschen so nicht behandeln sollte? Ich hoffe es, denn wenn ich ganz ehrlich sein soll, bin ich ein klein wenig verliebt in ihn.

Es wird tatsächlich besser in der Schule. Sie lassen mich jetzt fast in Ruhe und mit dem bisschen verbliebenen Spott komme ich schon zurecht. Vielleicht hat sich der Junge ja sogar für mich eingesetzt, und die anderen hören auf ihn? Es ist jetzt jedenfalls erträglich und ich freue mich fast schon auf die letzten Monate mit dieser Klasse. Jetzt, wo mein Sozialleben bis auf letzte kleine Lästereien halbwegs normal scheint, kann ich die Zeit ja vielleicht sogar genießen?

Entsprechend fahre ich freiwillig mit auf die Abschlussfahrt der sechsten Klasse. Die letzten zwei Tage vor den Zeugnissen verbringen wir zeltend auf einem kleinen Platz nahe am Wald - und am Freibad direkt nebenan. Ich kenne den Platz schon, weil meine Schwestern oft hier sind, liebe ihn. Noch ein Grund mehr, gern mitzukommen.

Allerdings wird es doch ein wenig anders als gedacht, denn die Jungen haben es geschafft, harten Alkohol ins Lager zu schmuggeln. Vier Flaschen Wodka. Bis die Lehrer das merken, haben sie zwei Flaschen schon geleert und vor allem in die Büsche geworfen, mitten im Dunkeln. Jetzt müssen sie die Flaschen suchen gehen, denn wir sollen immerhin keinen Müll hinterlassen.

In der allgemeinen Aufregung sitze ich alleine am Feuer. Weder hat man mir Alkohol angeboten, noch hätte ich ihn gewollt. Ich bin wohl spießig, aber ich mag auch einfach den Geruch nicht. Und die Art, wie die Jungs sich nun benehmen. Als wären sie keine Menschen, sondern Paviane.

Also bleibe ich alleine und finde das gar nicht mal schlecht. Die Lehrer sind abgelenkt, die Klassenkameraden auch. So habe ich meine Ruhe. Es ist wunderschön, hier im Dunkeln am Feuer. Die Nacht ist beinahe schon frisch, obwohl Sommer ist. Mein Bauch ist ein bisschen zu warm, mein Rücken kühlt fast etwas zu sehr ab. Aber gerade mag ich das. Und wenn es mir zu viel wird, drehe ich mich einfach um.

Plötzlich stellen sich mir die Nackenhaare auf, jemand beobachtet mich. Ich schaue mich um, wo derjenige ist und sehe gleich drei Jungs, die mich anstarren. Darunter auch mein einstiger Peiniger, mein heimlicher Schwarm.

Er kommt näher, lächelt mich an und setzt sich neben mich ans Feuer. Dass die anderen auch näher kommen, bemerke ich noch nicht. Meine Aufmerksamkeit gilt nur ihm.

Noch immer lächelt er mich an. „Möchtest du mit mir gehen?", fragt er und es fühlt sich irreal an. Als würde die Zeit stehen bleiben. Wie ein guter Abschluss dieser zwei Jahre, die hart waren, mir viel abverlangt haben. Aber es fühlt sich irreal an.

„Ja ...", fange ich schließlich vorsichtig an.

Doch er steht auf, lacht und geht zu seinen Freunden zurück. Dort angekommen dreht er sich um und sagt laut genug, dass der ganze Zeltplatz es hört: „Ich aber nicht mit dir." Dann zeigen sie mit dem Finger auf mich und lachen ich aus. Auch der Rest der Klasse, der gerade da ist, stimmt mit ein, kommt dafür sogar ein Stück aus dem Wald zurück.

Der Schmerz ist langsam, stetig. Nicht wirklich ein gebrochenes Herz. Damit kann ich leben. Ich bin auch mit zwölf nicht so dumm, zu glauben, dass eine erste Liebe ewig hält. Aber die Art, wie man mich vorführt, tut weh. Wie man selbst davor nicht zurückschreckt, mich mit Gefühlen aufzuziehen. Ihnen ist nichts heilig. Sie wollen mir nur zeigen, dass ich nicht zu ihnen gehöre und das auch nie werde. Und das haben sie geschafft. Leider dauerhafter, als sie ahnen. Jedes Mal, wenn Gefühle wieder aufkommen, denke ich an diesen Moment zurück. Daran, dass ich es nicht wert bin und man mich doch nur auslacht. Dass ein Leben ohne Liebe besser ist als das.

Unter drei AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt