Eingesperrt

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- Krankheit der Stunde: Skoliose, Klaustrophobie -

Während der Orientierungsstufe ändert sich noch etwas für mich. Mein Orthopäde ist der Meinung, ich sollte mit meinem Rücken mal zu Spezialisten gehen. Es gäbe eine Skolioseambulanz, die noch besser entscheiden könnte, was mit mir gemacht werden kann und soll.

Also gehe ich dorthin. Zum ersten Mal sehe ich Menschen wie mich, Kinder wie mich. Naja, nicht wirklich. Sie haben alle nur Skoliose und sonst nichts. Oder zumindest sagen sie es nicht, wenn sie noch etwas Anderes haben und ich kann es ihnen auch nicht ansehen. Aber auch sie müssen auf ihren Rücken aufpassen. Dürfen nicht zu viel springen, nicht zu viel tragen. Manche sehen sogar deutlich schlimmer aus als ich. Während man meinen krummen Rücken zwar auch sehen kann, wenn ich stehe, und man genau darauf achtet, sieht man ihnen schon von weitem an, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie sind extrem krumm, müssen teilweise sogar auf Stützen gehen, weil ihr Rücken mit der Krümmung beim Gehen nicht in der Lage ist, alleine das Gleichgewicht zu halten.

Das gibt mir etwas Hoffnung auf der einen Seite, denn nicht nur bin ich nicht allein, sondern es geht mir auch besser als ihnen. Zumindest von meinem geringen Einblick in ihr Leben aus.

Auf der anderen Seite macht das aber auch Angst, denn wenn ich zu wenig für meine Rückenmuskulatur tu, Krankengymnastik schwänze oder zu viel und zu schwer trage, kann sich auch meine Skoliose verschlimmern. Ich kann auch so werden wie sie.

Diesen Eindruck bestätigt auch der erste Orthopäde in der Ambulanz. Nachdem ich erst oben ohne und nur im Schlüpfer bei ihm stehen muss, damit er schön meine ganze Wirbelsäule erkennen kann, mich von ihm berühren lassen muss, sagt er mir, dass die Wahrscheinlichkeit durchaus nicht bei Null liegt, dass ich mit 30 Jahren im Rollstuhl sitzen werde, weil mein Rücken mich nicht mehr tragen kann. Ich bin elf Jahre alt, habe Angst vor Ärzten, bin extrem ungern nackt, werde nicht gern berührt und er sagt mir in einer solchen Situation, dass mein Leben vermutlich eh für die Tonne ist?

Nein, das Leben eines Rollstuhlfahrers ist nicht für die Tonne. Bitte nicht falsch verstehen! Ich habe heute einen Kumpel im Rollstuhl, der damit zum Fußball, zu Lesungen, überall hin kommt. Er spielt sogar regelmäßig Theater. Leitete zeitweise eine Firma. Er braucht vielleicht in manchen Momenten etwas Hilfe, hat sich aber sehr gut mit seinem Körper arrangiert, auch wenn es natürlich auch für ihn Rückschläge gibt, wie für jeden anderen Menschen.

Aber für mich als Elfjährige heißt es das. Dass mein Leben so gut wie vorbei ist. Ich komme so schon nicht mit mir klar, und dieser Mann macht mir bewusst Angst. Ohne mich zu kennen, ohne zu wissen, was er damit bei mir auslöst. Also auch, ohne es wenigstens gezielt nutzen zu können.

Und dann sagt er den einen Satz, der mein Leben für fünf lange Jahre verändern und gestalten wird: „Ich finde, wir sollten dir ein Korsett machen."

Bei Korsett denken die meisten vermutlich zuerst an die Dinger aus Fischbein, die reiche Frauen vor Jahrhunderten trugen, um eine schönere Taille und ein hübscheres Dekolleté zu haben. Vielleicht denkt ihr auch daran, dass manche dieser Frauen dann tatsächlich umkippten, weil sie nicht genug Luft bekamen, wie Elizabeth Swan in Fluch der Karibik.

So etwas gibt es auch, natürlich. Und auch noch heute. Aber die meint der Orthopäde leider nicht. Orthopädische Korsetts sind einerseits ähnlich, andererseits doch ganz anders.

Aber auch ich muss das erst noch lernen. Ich gehe zum Sanitätshaus, denn heute soll mein Körper für mein Korsett gemessen werden. Ich soll mich wieder ausziehen. Dann bekomme ich ein Hemd an, das mehr an einen Putzlappen in Körperform erinnert. Und schließlich werde ich vom oberen Schambereich bis zu den Schultern eingegipst. Hände schmieren über meinen Körper, der ja Berührungen nicht mag, und dann wird alles erst warm und nass und dann eng, furchtbar eng. Ich habe Probleme zu atmen.

Eine halbe Stunde stehe ich dann so. Aufs Klo darf ich nicht. Sitzen auch nicht. Ich darf reden. Eine Verbesserung zum CT, das mir als Kind so einengend erschien, ja. Aber schön ist es dennoch nicht.

Dann kommt die Schere, um mich zu befreien. Zwischen Gips und meinem Schlüpfer kann sie allerdings nicht unterscheiden, egal, wie viel Mühe der Mann an der Schere sich gibt, so dass in den Jahren da so einiges kaputt geht.

Dann ist es endlich vorbei und ich darf mich anziehen. Ich bin dreckig, Gipsreste kleben an meiner Haut und jucken, aber ich darf nach hause. Und duschen!

Zwei Wochen später ist das Korsett fertig. Hartplastik, mit festen Schaumstoffstellen, die den Rücken in eine bestimmte Richtung zwingen sollen. Das erste, was ich lerne, ist: „Das soll auch weh tun. Das ist völlig normal und muss so sein."

Und das tut es, sehr sogar. Von nun an soll ich möglichst 23 Stunden am Tag in dieses Ding gesperrt werden, so eng wie möglich. Zum Duschen und für den Sport darf ich raus. Und Sport soll ich täglich machen, denn mein Rücken braucht ja Muskeln.

Aber sonst soll ich rund um die Uhr das Ding tragen, das mir so unglaublich weh tut. Mir wunde Stellen beschert. Und mir weiter die Luft zum Atmen nimmt. Zum Trost durfte ich Farben und Muster wählen.

Über die Jahre habe ich Korsetts mit Sternenhimmel, Regenbögen. Aber das hilft nicht. Bei einem Gips mag das noch reichen, um das leidende Kind zu trösten. Sperrt man es aber länger als 4 Wochen ein, ist die Farbe sowas von egal. Es wirkt eher zynisch, die Farbe des eigenen Gefängnisses wählen zu sollen.

Über die lange Zeit wird meine Klaustrophobie schlimmer, weitet sich auf mehr und mehr Bereiche meines Lebens aus. So habe ich sogar eine Panikattacke, als in der Schule nur ein Tisch etwas näher an mich gerückt wird, weil die beiden Mädchen hinter mir ihn aus Versehen mit den Füßen ein paar Zentimeter zu mir drücken. Ich komme immer schwerer mit Enge klar, projiziere die Enge, die mein Korsett verursacht, auf Situationen, in denen eigentlich genug Platz da wäre. Bus, Schule, Toilettenwände, die plötzlich viel zu nah erscheinen.

Aber vor allem mein Körper verändert sich. Meine Brust kann nicht wachsen, weil sie vom Korsett zurückgehalten wird. Erst mit 16 fängt sie an, größer zu werden, als der Rest meines Körpers schon fertig mit dem Wachstum ist.

Und meine Hüfte ist durchgängig wund, weil sie beim Laufen an der Plastikschale reibt. Noch 12 Jahre nach meinem letzten Tag in diesem Gefängnis gehen die blauen Flecken davon nicht ganz weg und die Haut ist dort immer trocken und spröde, egal wie oft ich sie eincreme.

Auch mein Hintern hat darunter gelitten. Er ist ziemlich breit gedrückt gewachsen, was es heute schwer macht, vernünftige Hosen zu finden.

Unter dem Plastik staute sich auch die Hitze, so dass ich schon bei 15 Grad am Schwitzen war und nichts dagegen tun konnte. Mein Körper hat sich noch heute nicht daran gewöhnt, dass er frei ist, schwitzt in vorauseilendem Gehorsam schon bei niedrigen Temperaturen los.

Vor allem aber ist mein Körpergefühl gestört. Gleichgewicht bereitete mir schon immer leichte Probleme, aber das ist seitdem schlimmer geworden. Und mich alleine aufrecht zu halten, ist schwer. Sorgt an manchen Tagen für Rückenschmerzen und schnelles Ermüden meiner Muskeln.

Gleichzeitig fühle ich es oft immer noch an mir. Wie es mich quetscht, mich in Form drückt, wie es in Teile meines Körpers regelrecht reinsticht, damit er da weg geht.

Ich vermisse es. Ich hasse es, habe Angst vorm Korsett, fühle mich ohne es aber auch nicht mehr vollständig. Es gab mir einen Schutzpanzer gegen viele der Schläge, keiner konnte mehr an meinen Fehlbildungswirbel. Und letztlich ist sicher auch das Korsett mit dafür verantwortlich, dass ich auf die 30 zugehe und der Rollstuhl noch weit entfernt ist.

Furchtbar war es dennoch. Immer wieder in Momenten, in denen man sich nicht konzentriert, das Gefühl zu haben, man hätte vergessen, es anzuziehen. Würde Ärger bekommen. Würde deswegen im Rollstuhl landen. Panik zu bekommen, bis das Gehirn sich einschaltet und einen erinnert, dass man jetzt erwachsen ist und es nicht mehr braucht. Nicht mehr tragen muss.

Und letztlich muss ich ihm wohl auch dankbar sein. Denn die Alternative, die mir jetzt auch immer noch droht, ist eine Operation zur Versteifung der Wirbelsäule. Damit würde ich auf Dauer Beweglichkeit einbüßen. Und davor habe ich noch mehr Angst, als ich je vor dem Korsett und seinen Folgen haben könnte.

Unter drei AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt