Dass das mal nicht in die Hose geht

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- Krankheit der Stunde: Reizblase -

Dass mein Leben schwieriger wird, geschieht plötzlich, zumindest aus meiner Perspektive. Meine Blase hat schon seit der Grundschule Probleme gemacht. Damals hatte ich eine sehr langwierige Blasenentzündung, in deren Verlauf ich meine Blase zu einer Schrumpfblase gewandelt hatte. Wenn man zu oft auf Toilette geht, gewöhnt sich der Körper daran und das Fassungsvermögen sinkt. Meine war so klein geworden, dass ich mit Tabletten behandelt werden musste, zusätzlich dazu, meinen Körper wieder zu trainieren.

Von da an war es schon immer schwer. Ich musste oft und brauchte lange. Hinzu kamen meine Gene. Denn meine Mutter hat verengte Harnwege vererbt. Das heißt, ich kriege die Blase nicht oder nur sehr schwer völlig entleert. Nicht gerade förderlich, wenn man eh schon Probleme in der Hinsicht hat. Und die Tatsache, dass ich mit Reizen dank des Aspergers oft überfordert bin, macht es noch schlimmer. Denn die Blasenentleerung ist an den Parasympathikus gekoppelt. Sprich: Wenn man sich entspannt, kann man pinkeln. Wenn der Körper aber angespannt ist, geht es nicht so gut. Ist man also dauerhaft angespannt, weil jedes Geräusch eines zu viel ist, ist das einem völlig normalen Klogang nicht zuträglich.

Aber die ganze Schulzeit über ging es. Ich brauchte sieben Minuten auf Toilette, planbar. Konnte dabei mit Menschen reden. Nur meine Klaustrophobie und mein Kreislauf, der Wärme nicht verträgt, waren mein Feind und sorgten für kleinere Zusammenbrüche auf den engen und oft überhitzten Klokabinen in Schule und Stadt. Das war aber alles noch erträglich.

Jetzt bin ich aber im Studium angekommen. Ich merke, dass etwas anders ist. Das Fehlen von kleinen Pausen macht mich nervös, richtig panisch. Ich darf nicht mehr so oft aufs Klo. So lange auszuhalten, geht aber damit einher, dass mein ganzer Körper sich verkrampft und auch dann noch weiter wehtut, wenn ich längst zuhause bin. Dabei sind 90 Minuten eigentlich kein Problem für mich. Zuhause kann ich teilweise sechs Stunden Fernsehen oder am Computer spielen, ohne müssen zu müssen. Aber der Gedanke, nicht gehen zu können, wenn man muss, macht mir furchtbare Angst.

Dennoch merke ich lange nicht, wie es immer schlechter wird. Nicht richtig. Erst im Nachhinein, wenn ich darüber nachdenke, wie ich an den Punkt heute kam.

Über das Studium hinweg werde ich immer reizbarer, wenn es um das Klo geht. Jedes kleine Geräusch sorgt dafür, dass ich auf der Toilette erst erstarre und dann nochmal muss.

Obwohl ich mein Leben lang daran gewöhnt bin, immer das Gefühl zu haben, ich müsse auf Toilette. Auch wegen den verengten Harnwegen. Jetzt aber verliere ich die Fähigkeit, zwischen diesen ständigen Gefühl und echtem Harndrang zu unterscheiden. Ich fühle mich mittlerweile immer, als würde ich mir gleich in die Hose machen. Durchgängig, in jeder Sekunde meines Lebens. Ich tu es nie, niemals. Aber die Panik ist so groß, dass ich nur noch an meine Blase denke, sie immer im Vordergrund meiner Gedanken ist.

Ich merke erst, dass irgendwas gar nicht mehr in Ordnung ist, als ich das erste mal einen Nervenzusammenbruch auf dem Klo habe. Ich sollte eigentlich zum Bus und in die Uni fahren. Aber das Gefühl, immer und immer noch einmal zu müssen, lässt mich nicht aus dem Bad kommen. Und der Gedanke daran, dass ich zu früh losgehe, und somit mehr Wartezeit, mehr Zeit ohne Klo habe, oder aber der Bus wieder einmal zu spät kommt, das Wissen, 50 Minuten ohne eine Toilette auskommen zu müssen, weil erst dann das erste Umsteigen bei einem Gebäude mit frei nutzbarem Klo ist, das Wissen, mit Pech noch länger aushalten zu müssen, das ist zu viel für mich.

Ich sitze nur noch weinend auf dem Klo, zitternd und schwitzend. Vor allem schwitzend, denn urinieren ist für mich Hochleistungssport. So viele Muskeln sind daran beteiligt, die Blase so gut wie möglich auszuquetschen. Und es braucht extreme Konzentration, sie willentlich zu steuern, da sowas bei anderen instinktiv geht. Bei mir nicht.

All das macht mich fertig.

Meine Familie versucht, mir zu helfen. Bachblüten, Homöopathie, und echte Naturheilkunde ... Sie beruhigen meine Nerven. Sie fahren mich jetzt auch immer öfter zur Uni, denn mit dem Auto dauert die Strecke nur 20, maximal 30 Minuten. Und die Sitzheizung hilft. Wärme ist gut gegen Blasenprobleme.

Aber während meine Nerven über die Zeit besser werden, und ich nicht mehr zusammenbreche, bleibt meine Blase unbehandelt. Wird nicht besser, obwohl ich mir so viel Mühe gebe.

Ich trainiere mich selbst, überwinde dabei eine Zwangsneurose, die ich über die Jahre aufgebaut habe und die die Lage auf dem Klo nur noch verschlimmert hat. Und ich habe immer Wärme dabei, gebe viel dafür aus, erst die Taschenwärmer zu kaufen, die man im Winter so aus den Läden kennt, und dann elektronische Taschenwärmer. Sieht zwar komisch aus, immer so viel in der Hosentasche zu haben, oder es ganz bewusst über die Blase zu halten, aber was soll ich tun? Und auch Geld habe ich jetzt immer dabei, um im Notfall in Cafés auf Toilette zu können.

Aber, wie ich in einem vorigen Kapitel schon schrieb, mein Studium hätte ich nicht beenden können, hätten meine Eltern mich nicht so sehr unterstützt. Ich brauche noch heute ihre Hilfe, um in die nächste Stadt zu kommen. Noch heute sind Zeitdruck, Geräusche oder auch nur das Wissen, gleich aus der Tür zu müssen oder zu wollen, Dinge die mich nervös machen. Dafür sorgen, dass ich statt wenigen Minuten eine halbe Stunde brauche. Nur zum Pinkeln.

Noch heute muss ich immer Taschenwärmer bei mir tragen, um die Blase wärmen zu können. Noch immer habe ich durchgängig das Gefühl, müssen zu müssen.

Es sperrt einen ein, macht einsam. Ich kann nicht mal eben in den Park. Oder Freunde treffen. Nicht einmal mal eben zu einer Arbeit. All das braucht Planung und selbst dann kann mir die Panik im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung machen.

Es geht mittlerweile besser, weil ich viele Toiletten in der Umgebung kenne, weiß, wo ich zu welchen Uhrzeiten für wie viel Geld aufs Klo gehen darf. Und ich weiß, welche Speisen und Getränke ich wie lange vorher meiden muss, weil sie entwässernd wirken, Wasser anlagern, das irgendwann raus will, oder weil die Säure die Blase reizt. Orangensaft zum Beispiel. Oder Blaubeeren. Beides sollte man nicht zu sich nehmen, wenn man am selben Tag oder früh am nächsten Tag aus dem Haus will. Ich könnte ein ganzes Buch nur über Speisen und ihre Wirkung auf die - oder zumindest meine - Blase schreiben.

Das sorgt nicht dafür, dass es immer klappt. Wenn Menschen mich auf Toilette stören, weil sie mich ansprechen, oder weil eine Klospülung in öffentlichen Toiletten kaputt ist und ständig rauscht, wenn Leute dort telefonieren, oder der Nachbar nur zu laut den Mülltonnendeckel schließt, bringt mich das immer noch aus dem Konzept.

Und es ist so ermüdend, immer alles zu beachten. Nie etwas falsches essen oder trinken zu dürfen. Tage im Voraus zu wissen, wann man aus dem Haus gehen muss und nichts spontan unternehmen zu können, sofern man nicht im Umkreis von Gehminuten zum eigenen Klo bleibt. Das belastet ja nicht nur meine Familie, die sich gern darüber beschwert, sondern auch mich. Dass ich das nicht freiwillig mache und darunter zumindest manchmal auch leide, weil die Welt eben nicht so konstruiert ist, dass man komplett zuhause bleiben kann, bedenken die Wenigsten.

Aber was ist die Alternative? Solange Linienbusse keine eingebauten Toiletten haben, öffentliche Klos immer öfter abgebaut werden, und der Klogang bei den wenigen verbliebenen dank Sanifair, McClean und Co. immer teurer wird, ist das die einzige Möglichkeit, mir zumindest etwas Freiheit zu erkämpfen.

Und ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin. Dass es viele Menschen gibt, die gern mehr am sozialen Leben teilhaben würden, die das aber einfach aus Gründen mangelnder Versorgung mit Toiletten nicht können.

Aber ein wenig Hoffnung gibt es, zumindest für mich persönlich. Nicht, dass ich je ein normales Leben werde führen können. Aber jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, habe ich zumindest einen großen Schritt gemacht. Gestern war ich zum ersten Mal wieder ganz alleine ohne Hilfe in der Stadt. Ich bin mit dem Bus hin- und wieder zurückgefahren, musste mich nicht bringen oder abholen lassen. Es war schwer und gerade auf der Rückfahrt tat es körperlich richtig weh, denn in der Stadt hatte ich Eiskaffee getrunken und Koffein treibt. Es hat danach noch ein paar Stunden gedauert, bis der Schmerz wieder weg war. Aber ich konnte zum ersten Mal seit zwei langen Jahren wieder selbstbestimmt weiter als 500 Meter aus dem Haus und unter Menschen. Und vielleicht weine ich gerade, weil das so etwas Besonderes für mich war. So viel Überwindung kostete, die es am Ende wert war.

Unter drei AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt