Das ist ja für mich

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- Krankheit der Stunde: Glasauge, Asperger -

Eigentlich sage ich immer, dass ich verstehe, dass Repräsentanz wichtig ist, man aber notfalls auch ohne überlebt. Weil ich mich in den ersten 27 Jahren meines Lebens nie mit irgendjemandem identifizieren konnte. In Kinderbüchern gab es ebenso wenig Leute, die wie ich waren, wie im Fernsehen. Ich kam nicht einmal auf die Idee, mir sowas zu wünschen, weil ich einfach dachte, keiner würde so sein wie ich. Bisher habe ich auch immer noch niemanden mit dem gleichen Krankheitspaket getroffen. Alle anderen mit Glasauge waren Rentner und hatten ihre Augen durch Krebs oder Arbeitsunfälle verloren. Und hatten nicht einmal Probleme mit ihren Augenhöhlen, keine Schmerzen. Hier fand ich keinen Anschluss. Aber auch die anderen Kinder in der Skolioseambulanz waren irgendwie anders. Und wirklich mit mir reden, wollten sie auch nicht. Für sie war ich nicht krumm genug, glaube ich? Denn mit meinen zur schlimmsten Zeit 29 Grad, zur besten 27 Grad Abweichung im schlimmsten Winkel der Wirbelsäule seh ich auf den ersten Blick noch aus wie ein Mensch ohne Skoliose. Wenn sie mal mit mir sprachen, dann eher auf Anregung durch ihre Mütter. Woanders hatte ich aber keinen Kontakt zu Behinderten. Weder zu welchen mit meinen Krankheiten, noch zu anderen, zumindest nicht, seit ich mit sechs Jahren aufs Dorf zog, fort von unserem alten Wohnblock wo die meisten Kinder behindert zur Welt kamen.

Also, Repräsentanz gab es in meinem Leben einfach nicht. Ich hatte keine Vorbilder oder auch nur Fernseh- oder Buchcharaktere, in die ich mich einfühlen konnte. Entsprechend peinlich ist es schon, dass mich meine Schwester erst daran erinnern musste, dass ich sehr wohl einen Moment dieses Glückes hatte.

Ich bin im Internet, schlicht aus Langeweile. Freunde, mit denen ich zuhause spielen kann, habe ich ja leider nicht. Nicht mehr zumindest, zu dieser Zeit. Meine Schwester ist Teil der Gothicszene und die Mentalität gefällt mir auch sehr gut, also bin ich in einem der Foren dazu registriert. Da finde ich unter der Kategorie Spaß und Witze die Liste der Dinge, die man machen soll, um Leute in den Wahnsinn zu treiben - gemeint ist natürlich, sie auf harmlose Art etwas zu nerven. Darunter fällt zum Beispiel, im eigenen Garten zu sitzen und mit dem Föhn auf vorbeifahrende Autos zu zeigen, um zu sehen, ob sie langsamer werden. Oder in der Oper mitzusingen, was ich einige Jahre später auch gemacht hab. Aber sehr leise, nur geflüstert.

Punkt vier auf der Liste aber war: Wenn Sie ein Glasauge haben, tippen Sie mit dem Kugelschreiber dagegen. Da hat der Ersteller doch wirklich an Menschen wie mich gedacht?

Das Gefühl ist überwältigend. Da ist etwas fast nur für mich. Übrigens klappt es wirklich und gibt einen sehr schönen Ton. Zumindest, wenn man eine echte Prothese aus Glas hat. Es gibt sie mittlerweile ja auch aus Kunststoff. Die Armen, die die tragen, können dann gar nicht so schön Leute mit dem Geräusch nerven.

Aber was soll denn nun die Botschaft dieses Kapitels sein? Dass Repräsentanz vielleicht nicht lebenswichtig ist, um zu sich selbst zu finden. Aber, dass selbst ein so kleiner Satz auf einer nicht ernst gemeinten Liste schon Glücksgefühle auslöst. Dass Repräsentanz, wahrgenommen zu werden und in Medien vorzukommen, in der Gesellschaft gesehen zu werden, glücklich macht.

Das gilt nicht für alles. Wenn in Büchern ein Charakter eine Behinderung hat, dann muss diese - für mich - auch in der Geschichte wichtig sein. Entweder eine Botschaft über 'Schaut mal, ich schreib total inklusiv' hinaus haben, oder die Handlung oder Charakterentwicklung vorantreiben. Hier mag ich es eigentlich lieber, wenn eben nicht auf Teufel komm raus jeder Charakter durchdefiniert ist. Wenn man über sie nicht weiß, ob sie gesund sind. Oder homosexuell. Oder einer anderen Ethnie angehören. Ich finde es viel schöner, wenn das offen gelassen wird, sofern es nicht unbedingt notwendig ist, damit jeder sich selbst darin wiederfinden kann. Damit der Charakter eben für den einen Leser eine dunkle Hautfarbe hat und auf Mädchen steht, für den anderen bleich und rothaarig ist und Jungen mag und für den dritten sogar nichts davon ist. (Denn ich mach mir über Charaktere nie Gedanken, wie sie aussehen oder wen sie lieben, weil ich Menschen danach nicht beurteilen WILL und für mich nur ihre Eigenschaften zählen.)

Aber Repräsentanz, echte, mit Sinn und Einblick in das Leben des entsprechenden diversen Charakters, und nicht nur zur Quotenerfüllung oder um sich tolerant zu fühlen, kann Menschen wie mir Hoffnung geben. Glück. Das kurze Gefühl, akzeptiert zu werden, oder sogar langfristig eine Perspektive.

Und spätestens im Fernsehen darf es auch gern einfach Quote sein. Wenn die Gesellschaft abgebildet wird, gehören schwarze, arabisch aussehende, asiatische, homosexuelle, transsexuelle, behinderte, und sonst alle Charaktere einfach mit ins Bild, die eben in der Gesellschaft auch vorkommen.

Wo zum Beispiel bleibt die Nichelle Nichols für Behinderte? Wer sie nicht kennt, das ist Uhura aus der originalen Star Trek-Serie. Sie wollte nach der ersten Staffel aussteigen, wurde aber von Martin Luther King dazu überredet, weiter mitzumachen, weil sie damit ein Leuchtfeuer der Hoffnung für Afroamerikaner war. Sie wird sowohl von schwarzen AstronautInnen, als auch von einflussreichen SchauspielerInnen wie Whoopie Goldberg als DER Faktor angesehen, der ihnen Mut machte, ihre Träume zu leben. Das alles nur, weil sie gleichberechtigt auf der Brücke der Enterprise saß und ein paar Sätze von sich geben durfte. Obwohl ihr die meisten Zeilen schon gestrichen wurden. Eine einzelne gute Repräsentation einer Minderheit kann also schon Welten bewegen.

Übrigens hatte ich das gleiche Glücksgefühl, nur noch viel intensiver, als mich eine Freundin auf die Graphic Novels von Daniela Schreiter gebracht hat. In 'Schattenspringer' verarbeitet die Zeichnerin ihr Leben mit Asperger. Und ich habe beim Lesen geheult. So sehr hat mich noch nie jemand verstanden, schien mir. Nicht mal meine Eltern.

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