Take 09

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Grace's Pov.

Mit einem Ruck hielt ich den Wagen an, stellte routiniert den Motor aus und zog den Schlüssel ab.

Ich spürte Harrys unsicheren Blick auf mir liegen, welcher neben mir am Beifahrersitz saß und ich atmete ein letztes Mal tief ein, ehe ich mit meinen schwitzigen Händen die Autotür öffnete.

Kühle Waldluft stieß mir entgegen und meine Lunge nahm sie erfreut entgegen.

Harry tat es mir gleich und musterte mich abwartend von der anderen Seite des Autos aus.

>> Komm <<, sagte ich und mein Atem bildete ein weißes Wölkchen in der Luft. Ohne seine Antwort abzuwarten stapfte ich auf den schmalen Waldweg zu und zog meinen nude-farbenen Mantel enger zusammen. Hinter mir knacksten ein paar Äste, ein Zeichen dafür, dass Harry mir folgte.

Nach einer Weile des Schweigens erreichten wir eine hohe weiße Mauer mit einem eingerosteten grünlichen Eingangstor, welches ich mit einem Quietschen öffnete.

>> Ein Friedhof? << fragte Harry hinter mir und ich stellte mir innerlich vor wie er dastand, verwirrt dreinschaute und seine Augenbrauen hochzog.

Mit einem schiefen Lächeln drehte ich meinen Kopf so, dass ich ihn über meine Schulter hinweg anschauen konnte und nickte >> Komm, wir sind gleich da. Oder hast du Angst vor Friedhöfen? <<

>> Nope, keine Spur. <<

Kontrolliert führte ich uns zwischen den vielen Gräbern hindurch, die teilweise schon zerfallen waren oder gerade frisch mit Blumen bestückt worden waren. Manche Gräber hatten den Anschein schon ewig nicht mehr gepflegt worden zu sein und dass die Leichen eigenständig ausgebrochen wären.

Ich kannte diesen Weg inn- und auswendig, er war einfach ein Teil von mir.

Nach weiteren zwei Minuten kamen wir vor einer ebenso weißen Friedhofsmauer zu stehen, die ebenfalls ein Tor besaß, welches aber keines Wegs eingerostet war, sondern man konnte ihm ansehen, dass der Lack immer wieder erneuert worden war, sobald er abgeblätterte und das eiserne Tor bei jedem Quietschen neu geölt worden war.

Dieser Teil des Friedhofes war anders. Er war gepflegt, friedlich und befand sich mitten im Kern des Friedhofes. Irgendwie hatte es mit all den sorgfältig gepflanzten Blumen an den Gräbern und neben dem Kiesweg etwas fantasiehaftes an sich und man musste dazu sagen, dass um diese Jahreszeit nicht sonderlich viel blühte.

Entschlossen schritt ich auf eine Grabreihe weiter links zu und kam endgültig zum Stehen.

Wie lange ich wohl schon nicht mehr hier war? Zu lange um genau zu sein.

>> Ist es das, was du mir zeigen willst? Ein Friedhof, der aussieht als wäre hier Alice im Wunderland gedreht worden? <<

Falsch, Styles.

>> Sieh genauer hin, Harry <<, hauchte ich schon fast und zeigte mit meinem knochigen Finger auf das Grab welches vor mir lag.

Daraufhin folgte die Stille und dann das Unvermeidliche.

>> Fuck. Du bist die Schwester von Lucian Wheeler!!! Dem Lucian fucking Wheeler! <<

Stumm nickte ich und begann zitternd zu sprechen >> Ich kann nicht annähernd fühlen was du gefühlt hast, als du von den Klippen gesprungen bist. Ich kann mir auch kaum vorstellen was du in dem Moment gedacht hast, aber ich weiß was mit ihm passiert ist und ich will nicht, dass dir dasselbe passiert. <<

>> Grace? Was ist passiert? Ich weiß, dass fast niemand weiß wie er starb. Er war von einen Tag auf den anderen einfach weg. Warum zur Hölle wollte sein Management den Grund auf keinen Fall preisgeben? <<

Ich schluckte. Ich hatte es noch nie offen ausgesprochen. Niemand der es wusste hatte es jemals offen ausgesprochen.

>> Grace! Verdammt antworte mir! <<

Ich würde ihm ja antworten, aber ich brachte dieses eine Wort einfach nicht über meine Lippen. Dieses eine Wort, dass wie heißes Wasser meine Zunge verbrannte. Dieses eine Wort, dass die Mauer die ich aufgebaut hatte einstürzen lassen würde.

Plötzlich wurde ich grob gepackt und gegen die raue, eiskalte Friedhofsmauer gepresst. Selbst durch meinen Wintermantel konnte ich die Kälte der Friedhofsmauer spüren und ich erschauderte.

Geschockt keuchte ich seinen Namen, doch er ließ nicht locker >> Verdammt nochmal, was ist damals passiert? Du führst mich hierher zu seinem Grab ohne ein Wort darüber zu verlieren. Das kann doch nicht alles gewesen sein! Ich verdiene es die Wahrheit zu erfahren! Grace, bitte! <<

Zum Ende hin war er immer leiser geworden und seine Stimme hatte diese gewisse aggressive Schärfe verloren.

>> Bitte Grace. <<

Ich wusste, dass ich es eines Tages offen ausprechen müssen würde, auch wenn es mich zerstören würde.

>> Selbstmord<<, hauchte ich, ehe meine Knie, mein Gehirn, selbst mein Verstand nachgaben und ich hilflos an der Friedhofsmauer runterrutschte.

Heiße Tränen bahnten sich ihren Weg über meine Backen und ich spürte wie zwei starke Arme sich schützend, nahezu liebevoll um meinen, in dem Moment ziemlich gebrechlichen Körper schlangen und mich hochhoben.

>> Es tut mir leid. <<

>> Ich hätte es sowieso irgendwann aussprechen müssen, Harry. Ich habe es schon viel zu lange in meinem Kopf vergraben in der Hoffnung, dass ich vergessen könnte. <<

Irgendwann saß ich dann wieder im Auto. Diesmal war ich die, die am Beifahrersitz saß und er Derjenige am Steuer. Während der ganzen Fahrt wechselten wir kein Wort miteinander, abgesehen davon war ich sowieso zu sehr in meinen Gedanken versunken.

Ich merkte nicht einmal wie wir in die Garage meines Wohnblocks fuhren und der Mann neben mir den Motor ausstellte bis er sich zu mir rüber beugte und ich geradewegs in seine grünen Augen starrte.

>> Grace. Grace? Alles okay? <<

Langsam löste ich mich aus der Starre und nickte unsicher über meine Antwort. Ich löste mich von seinem Anblick und schloss die Augen.

>> Lügnerin. <<

Mit einem Ruck öffnete ich meine Augen wieder und verlor mich wieder in seinen >> Was hast du gesagt? <<, fragte ich ungläubig, obwohl ich es natürlich ganz genau verstanden hatte.

>> Du hast gelogen. <<

>> Mag sein. <<

>> Du bist eine Lügnerin Grace. <<

>> So wie du, Harry. <<

Mit großen Augen starrte er mich an, als hätte ich ihm gerade die Kehle aufgeschlitzt. Trotzdem hielt ich weiterhin seinem stechenden Blick stand und ich wusste genau, dass auch er kämpfen musste.

>> Mag sein. <<

Und dann tat er etwas womit ich nie gerechnet hätte: Er legte seine Lippen auf meine und küsste mich.

Vielleicht hatte ich mich ja danach gesehnt und tief im Inneren wusste ich das, doch in dem Moment konnte ich einfach nicht anders:

Ich löste mich schnell von ihm, riss die Autotür auf und rannte so schnell ich konnte los. Meine hastigen Schritte hallten durch die Parkgarage, ebenso wie Harrys.

All die Jahre hatte ich diese Mauer um mich aufgebaut und nun kam er und zerstörte sie einfach mit seinen Taten, seinen Worten und seinen weichen, perfekten Lippen.

Tränen flossen wie Sturzbäche über meine fahle Haut und mein Gehirn drohte zu zerplatzen.

Ertappt ließ ich mich auf meine Knie senken, die Hände auf meinen Kopf gepresst und die Augen geschlossen, mich meinem Schicksal ergebend.

Meine Mauer war gefallen und ich mit ihr.


Das Leben ist kein Film ✔ |H.S.|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt