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Erschüttert lege ich das Telefon zurück auf die Kommode im Flur. Ich zittere.
In diesem Moment bin ich froh, dass die Kinder beide noch in der Schule sind.
Alex ist im Büro und kümmert sich um potentielle neue Assistenzärzte, indem er ihre Bewerbungen durchgeht und überprüft.

Ich hole tief Luft, dann gehe ich auf das Zimmer zu. Ich kann nur seinen Rücken sehen. Er sitzt ganz ruhig und aufrecht da, während er die verschiedenen Ordner und Mappen durchblättert.
Schließlich stoße ich die Tür auf. Er zuckt zusammen, sieht mich erst wütend an, doch als er meinen Gesichtsausdruck sieht macht sich Sorge in seinem Gesicht breit.

"Alex, da kam gerade ein Anruf.", beginne ich, doch eigentlich weiß ich gar nicht was ich sagen soll. Wie soll man einem Menschen so etwas sagen?

"Ist alles in Ordnung?" Ich schüttle den Kopf. Er will aufstehen, aber ich bitte ihn darum sitzen zu bleiben.
"Was ist denn passiert?"

"Es geht um Nathan. Dein Vater hat angerufen.", bringe ich hervor. Als ich sehe, wie alle Farbe aus Alex' Gesicht weicht, muss ich mich an der Tür festhalten.

"Nein.", sagt er leise. Ich bemerke, wie seine Hände leicht zittrig werden.

"Du musst mich ausreden lassen, Alex, okay? Versprichst du mir das?"
Er nickt. Also hole ich erneut Luft und erkläre ihm, was passiert ist.

"Nathan hat mitbekommen, dass die gegnerischen Truppen die Kinder aus dem Dorf, in dem er stationiert war holen wollten um sie im Zeichen des Krieges hinzurichten."

Es ist so grausam, dass ich es nicht schaffe die Ereignisse kurz und flüssig zusammenzufassen.

"Er muss kurz nach seiner Ankunft an der Front angefangen haben, eine Rettung der Kinder zu planen, aber weil er nicht für solche Aufgaben zuständig war, haben die Offiziere den Plan nicht unterstützt. Nathan musste ihn mit ein paar anderen Soldaten im geheimen ausüben."

"Worauf willst du hinaus, Melissa?"

"Als die Umsetzung erfolgen sollte, haben die gegnerischen Truppen Wind davon bekommen. Nathan war der einzige, der den Plan trotzdem noch in die Tat umsetzen wollte. Er hat alleine 127 Kinder aus dem Dorf evakuiert, aber er hat es selbst nicht mehr rechtzeitig herausgeschafft, bevor die gegnerischen Soldaten das Dorf gestürmt haben."

"Nein. Sag mir, dass das nicht wahr ist."

"Alex, es tut mir so leid."

"Nein. Nein." Er steht auf und läuft vor dem Fenster hin und her. Seine Hände presst er an seine Wangen.

"Sie haben ihn erschossen."

Dann fangen wir beide an zu weinen. Ich gehe auf ihn zu, finde irgendwie dem Weg in seine Arme. Wir sinken auf den Boden, halten uns einfach nur aneinander fest. Ich streiche Alex über die Haare, während sein Kopf schluchzend an meiner Brust liegt.
Aber ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll.
Wie soll man einem Menschen helfen, dem eine der wichtigsten Personen in seinem Leben genommen wurde?

Ich hätte nie gedacht, dass dieser Tag kommen würde.
Wie leichtsinnig ich doch war.
Der Schmerz ist schon bei mir groß. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es für Alex sein muss.

"Soll ich es den Kindern sagen?", frage ich leise, als er wieder etwas ruhiger geworden ist.

"Lass uns das zusammen machen.", entgegnet er. Seine Stimme ist heiser vom Weinen.

"Sie wollten heute nach der Schule noch mit zu Kate. Sollten wir sie früher abholen?"

Er schüttelt den Kopf. "Nein, wir sagen es ihnen wenn sie wieder da sind. Ich sollte meine Mutter anrufen, richtig?"

"Ja.", stimme ich zu, überrascht darüber, wie gefasst er ist.

"Okay."

*

"Sie feiern Nathan auf der ganzen Welt.", erklärt Alex, nachdem er aufgelegt hat. "Wir können froh sein, dass wir es erfahren haben, bevor die Medien es verbreitet haben."

"Geht es dir gut?", frage ich.

"Ich denke schon."

Insgeheim kenne ich Alex jedoch so gut, dass ich weiß, dass es ihm überhaupt nicht gut geht. Ich nehme ihn noch einmal in den Arm.

"Mein Bruder wird ein Staatsbegräbnis bekommen. So groß die Ehre auch ist, ich hätte mir gewünscht, dass er irgendwann ein ganz normales Begräbnis bekommen würde, wenn ich schon lange unter der Erde liege."

"Ich weiß. Es ist unfair."

"Ja, das ist es."

"Aber ich glaube, Nathan wusste, welches Risiko er da eingeht. Er hat sein Leben für das von 127 Kindern gegeben."

"Es macht mich so wütend. Er wusste genau was er tut."

"Es sollte dich aber stolz machen." Ich gebe ihm eine Kuss und wische die Träne, die ihm über die Wange läuft mit der Hand weg.
"Ich weiß, dass es schlimm ist. Und nicht fair. Aber Nathan hat aus voller Überzeugung gehandelt, das Richtige zu tun. Sei ihm nicht böse, Alex."

*

Als Noah und Emily nach Hause kommen, bitten wir sie ins Wohnzimmer. Wir wissen beide nicht was wir sagen wollen, also ergreife ich das Wort.

"Wir müssen mit euch reden."

"Okay."

"Über Onkel Nathan."

Bei Noah kann ich eine ähnliche Reaktion feststellen, wie bei seinem Vater. Er wird blass und sieht mich ängstlich an.

"Nathan hatte einen Unfall.", erkläre ich schließlich, so ruhig wie möglich.

"Ist er verletzt?", fragt Emily. Im Gegensatz zu Noah, hat sie nicht direkt verstanden, worauf ich hinaus möchte. Alex legt Noah eine Hand auf die Schulter, während ich mich zu Emily knie, bis wir auf Augenhöhe sind.

"Ja, Emily. Er war verletzt."

Bevor ich weiter reden kann, hat sie mich schon wieder unterbrochen. "Aber ihr seid doch Ärzte. Ihr könnt ihn operieren, richtig?"

"Nein, das können wir nicht. Keiner kann Nathan operieren, Emily."

"Wie meinst du das?"

"Er ist tot, Em. Onkel Nathan ist gestorben."

Der Schmerz in meinem Herzen wird noch größer, als ich sehe wie die Gesichter meiner Kinder sich verändern. Wie sie anfangen zu weinen. Ich umarme sie, halte sie fest, aber ich kann nicht verhindern, dass auch mir die Tränen unaufhörlich über die Wangen strömen.

Es hätte wohl keiner damit gerechnet, dass ausgerechnet Nathan Lehmann den Krieg nicht überleben würde.

HusbandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt