"T A M U R I E L!"
In diesem Ruf lagen so viel Schmerz und Verzweiflung, dass selbst die Vögel in den Bäumen für kurze Zeit ihren Gesang einstellten.
„TARI !" Fast nur noch ein Flüstern durchbrach die Stille. „Mögen die Götter deine Wege beschützen".
Der Mann stand regungslos am Ufer und starrte dem Nachen hinterher, der sich nur mehr als dunkler Punkt vor der untergehenden Sonne abzeichnete, die mit ihren letzten, glutroten Strahlen den einsamen Ort beleuchtete. Seine hagere Gestalt war vor Trauer gebeugt, die ihn wie einen schweren Mantel zu umgeben schien. In einer hilflosen Geste hatte er die Arme ausgestreckt, wie, um damit das kleine Boot an der Weiterfahrt hindern zu können. Tränen rannen an seinen stoppeligen Wangen herab, sammelten sich in seinem Bart, um dann sein Gewand zu benetzen. Sein Haupthaar hatte die Farbe schmutzigen Schnees und legte sich in sanften Wellen auf seine Schultern. Leise strich der Wind durch das Strauchwerk und warf kleine Wellen auf, die mit einigen losen Kieseln spielten, welche der See freigegeben hatte. Verhalten bewegten sich die Blätter der Bäume, gerade so, als wollten sie die Ruhe an diesem Ort nicht stören. Gequält stöhnte der Mann auf und mit einer resignierenden Bewegung senkte er die Arme, während sein Blick immer noch gebannt in die Ferne gerichtet war. Ihm zu Füßen lagen der schwere Langbogen eines Jägers, sowie eine Leinentasche mit einigen Pfeilen. Traurige braune Augen saugten sich an dem winzigen Punkt fest, der mit jeder Sekunde kleiner wurde, bis er am Horizont verschwand.
Ein leises Räuspern ließ den Mann aus seiner Trauer erwachen. " Ich wollte Euch nicht stören, Eneas, jedoch man macht sich im Lager Sorgen um Euer Wohlergehen". Die junge Frau, welche dies sagte, blickte suchend über den See. Leichtes Bedauern schwang in ihrer Stimme, als sie sprach: „Schade! Tamuriel hat uns nun doch verlassen?"
Margy atmete tief ein und seufzte: "Sie war eine gute Freundin und ich wünsche Ihr Glück auf allen ihren Wegen". Wortlos nickte der Alte und wischte sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht. Er musste sich mehrmals räuspern, um das beklemmende Gefühl in seiner Kehle zu überwinden.
„Ja, Margy, sie hat uns verlassen, um zu ihren Vorfahren zu gehen. Mögen die Götter ihr wohlgesonnen sein".
Er drehte sich zu ihr herum und sah sie an. Ihr rotes Haar bildete einen wunderbaren Kontrast zu ihrer ansonsten fast einfarbigen Gewandung, in der die dunklen Töne die Oberhand hatten. Sie hatte ihr Kleid unter der Brust gerafft, wodurch sie die üppige Fülle ihrer weiblichen Rundungen noch unterstrich. Ein breiter Ledergürtel mit einer silbernen Schnalle schmückte ihre Taille. In ihm steckte ein zierlicher Dolch neben einem Beutelchen, welches mit Sicherheit ein paar Kräuter enthielt. Die junge Frau strahlte Offenheit aus und doch umgab sie eine Aura voller verschwiegener Geheimnisse, die nur Eingeweihten bekannt waren. Ihre sanften, rehbraunen Augen sahen den Alten erwartungsvoll an. "Ist Euch nicht wohl? Ihr seht blass aus, mein Lieber".
Zu spät erkannte sie die feuchten Bahnen unter den geröteten Augen und biss sich erschrocken auf die Lippen. "Vergib mir, Eneas". Margy senkte verschämt den Blick. "Ich war taktlos und verdiene Deine Verachtung". Mit wenigen Schritten war der Alte bei ihr und hob mit zwei Fingern ihr Gesicht an, so dass sie ihm in die Augen sehen musste. "Es ist keine Schande, um einen guten Freund zu trauern und ich schäme mich meiner Gefühle nicht, dass weißt Du". Seufzend fügte er hinzu: "Es ist wohl das Privileg der Jugend, Alles leicht und beschwingt zu sehen. Doch es gibt Momente, da musst Du Deinem Gefühl einfach nachgeben, bevor es Dich zerstört". Eneas spürte, das ihr sowohl sein Griff, als auch sein fester Blick unangenehm waren, doch er zwang sie förmlich, ihm in die Augen zu blicken. "Vielleicht erzähle ich es Dir irgendwann einmal, was mich mit diesen Wesen verbindet, die sich selbst „Lichtvolk" nennen. Mag sein, Du wirst es sogar verstehen, doch dieser Augenblick ist weder hier noch jetzt gekommen". Zärtlich strich er ihr über die Wange und löste damit die Spannung zwischen ihnen. Sanft nickte er ihr zu und sprach leise: "Lass uns nun zu den Anderen zurück gehen".
Glücklich, sich endlich seinem Griff entziehen zu können, drehte sich Margy um und wollte eben den Weg zum Lager einschlagen, als Eneas sie am Ärmel zurückhielt. "Und, Mädchen", er machte eine kleine Pause. "Danke, dass Du Dir Sorgen um mich machst". Sie errötete. Verlegen neigte sie ihr Haupt und begann zu stottern: "Ich...wir...aber...!"
Eneas lachte leise. "Ist schon gut, meine Liebe. Geh voran. Ich werde dir folgen". Erleichtert, dieser Antwort enthoben zu sein, wandte sich die Rothaarige flink um und betrat den Weg, den sie vor Kurzem gekommen war. Hinter ihr setzte sich auch der alte Mann in Bewegung. Doch auf seinem Antlitz löste die Trauer das Lächeln wieder ab und der Blick seiner Augen wurde glanzlos.
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Tara's Träne
FantasyDie Träne der Göttin Tara ist ein magisches Artefakt und unschätzbar wertvoll für jene, welche die Macht des Steines kennen und zu nutzen wissen. Der Jäger Eneas vom Schattenbach wird durch einen tragischen Unglücksfall zum Hüter dieses Kleinodes. Z...