Ein paar Tage später, als die Sonne ihre letzten wärmenden Strahlen vor der nahenden, kalten Zeit über die kahle Erde schickte, lehrte Eneas Jenn den Gebrauch des Bogens. Die junge Frau war eine gelehrige Schülerin. Groß war ihre Freude, als sie bald darauf ihr erstes Wild, einen Hasen, erlegte, auch wenn sie gleich darauf das tote Tier traurig in den Händen hielt.
"Es ist das Gesetz der Natur, Jenn! Jedes Wesen unter dem großen Zelt der Götter will leben! Dazu gehört nun mal auch die Nahrung. Fressen und gefressen werden, ein ewiger Kreislauf. Bete für den Hasen, wenn es Dich erleichtert. Doch dann wollen wir ihn zubereiten".
"Ist es denn notwendig, immer nur zu töten"?
"Nein, Kleines,eigentlich nicht! Doch die Welt ist grausam geworden. Es überlebt nur der Stärkste und Schlaueste. Dieser Hase war nicht besonders klug, doch sein Fleisch wird uns helfen, zu überleben". Eneas überlegte kurz. "Doch manchmal ist es auch so, dass die Starken unterliegen. Ich kann es Dir nicht genau erklären, doch es ist ein ewiger Kreislauf. Nur die Götter wissen, warum das so ist". Jenn schaute zum Himmel auf. "Könnten denn die Götter wirklich so grausam sein, es zuzulassen, dass mein Vater getötet wurde"?
"In diesem Falle denke ich, sie haben vielleicht meine Schritte gelenkt, Dich zu retten und zu beschützen. Ich kannte Deinen Vater nicht, doch sicher war es der Götter Wille, ihn zu sich zu rufen. Nur es musste auchJemand da sein, der auf Dich Acht gibt und Dich behütet. Vielleicht hatten sie mich dazu auserwählt"... Dem Jäger war das Gespräch unangenehm und es wäre ihm lieber gewesen, er hätte diejunge Frau von ihren trüben Gedanken ablenken können.
Es begann ganz sacht zu regnen, obwohl die Sonne noch schien. Die junge Frau und der alte Jäger hingen ihren Gedanken nach, bis Eneas aufblickte. In der Ferne gewahrte er einen bunt schillernden Regenbogen und sein Herz erfreute sich an den Farben. "Sieh dort,Jenn, die Götter haben deinem Vater eine Brücke gebaut, auf das er zu ihnen gelangen kann", sagte er leise und deutete mit dem Finger in die Richtung. Die Frau sah auf und ihr Mund stand vor Staunen offen.
"Oh, wie schön! So etwas habe ich noch nie gesehen! Und Du glaubst, es ist eine Brücke der Götter"? Aus unschuldigen, grünen Mandelaugen sah sie ihn an.
"Ich bin mir ganz sicher, dass es eine ist", entgegnete Eneas schnell. Er war froh über seinen Einfall, obwohl er genau wusste, dass er Jenn gerade belog. Doch er wollte sie auf andere Gedanken bringen. "Dein Vater war sicher etwas ganz Besonderes, sonst wäre die Brücke nicht so schön bunt"! Er lächelte und spürte, dass das Mädchen ihm vertraute. Mit glänzenden Augen sah sie auf den Regenbogen und sprach verträumt: "Er war der beste Mensch, den ich je kannte. Stets fröhlich und freundlich. Immer, wenn er Zeit hatte, hat er mit mir gespielt oder mir Geschichten erzählt. Vor zwei Wintern hat er mich das erste Mal mitgenommen auf seine Reisen. Er hat mir viel erklärt und gezeigt"! Sie wandte sich an den Jäger: "Ich kann sogar schon ein Messer schleifen oder Pfeilspitzen schmieden". Stolz glomm in Jennys Augen auf.
"Er hat es mir beigebracht. Und Vieles habe ich bei ihm auch abgeschaut".
"So bist Du also schon eine richtige Schmiedin"? Eneas lächelte freundlich, doch Jenn's Gesicht verdüsterte sich wieder.
"Nein, ich kann noch zu wenig. Vater wollte mich noch Vieles lehren, doch jetzt ist er tot".
Der Jäger spürte, dass sie jeden Moment wieder zu weinen beginnen würde, deshalb sagte er schnell: "Jetzt sitzt er an der großen Tafel der Götter und speist mit ihnen. Und er schaut von dort oben auf dich herab und behütet Deine Wege". "Glaubst Du, er kann mich sehen"?
"Von dort oben kann man die halbe Welt sehen und ich glaube fest, er schaut auf uns herab. Und sicher möchte er, dass Du aufhörst zu weinen, jetzt, wo Du wieder hübsch bist". Jenn tastete über ihr Gesicht und sah ihn an. "Du flunkerst"! Das Mädchen zog die Stirn kraus. "Ich bin nicht hübsch. Prinzessinnen sind hübsch, aber ich nicht"! Sie sah an sich herab. "Die tragen schöne Kleider und Schuhe und haben schöne Haare. Ich bin nur die Tochter eines Schmieds und habe keine schönen Sachen". Enttäuschung machte sich auf ihrem Gesicht breit.
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Tara's Träne
FantasyDie Träne der Göttin Tara ist ein magisches Artefakt und unschätzbar wertvoll für jene, welche die Macht des Steines kennen und zu nutzen wissen. Der Jäger Eneas vom Schattenbach wird durch einen tragischen Unglücksfall zum Hüter dieses Kleinodes. Z...