Wunder und Verhängnis

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Erneut mischten sie sich auf in das bunte Treiben der breiten Straße. Ein Gaukler jonglierte mit bunten Bällen vor ihrer Nase, doch beide hingen ihren Gedanken nach über das, was sie noch vor wenigen Minuten gemeinsam erlebt hatten. Ganz sacht schob sich eine leise Melodie in die Gedanken des Jägers und lenkte seine Aufmerksamkeit dorthin. Jemand blies auf einer Rohrflöte eine melancholische Weise. Seine Augen suchten nach dem Spielmann und einige Zeit später entdeckte er zwei Kinder, die unter einem Torweg saßen. Ein blonder Junge lehnte mit dem Rücken an der Mauer und spielte hingebungsvoll mit geschlossenen Augen. Er trug eine dünne Leinenhose und ein grobes Wollhemd. Seine Füße hatte er mit alten Lappen umwickelt. Er schien die Kälte kaum zu spüren. Eneas schätzte sein Alter auf ungefähr 9 bis 10 Winter. Neben ihm saß auf einem kleinen Schemel ein Mädchen an einem Spinnrad. Ihre Haare fielen in dunkelblonden Wellen sanft auf ihre Schultern und gaben ihr, zusammen mit den runden Zügen ihres Gesichts, ein feenhaftes Aussehen. Ein grobes, dunkles Wolltuch bedeckte ihren schmächtigen Körper. Nur die Hände schauten daraus hervor. Flink bewegte sie ihre Finger, die vor Kälte schon blau gefroren waren. Doch emsig saß sie bei ihrer Arbeit und das Spinnrad schnurrte leise. Sie erschien dem Jäger um ein paar Winter jünger oder zumindest gleichaltrig zu sein. 

Irgend etwas trieb Eneas dazu an, näher zu treten. Der Knabe öffnete die Augen, als er sein Näherkommen bemerkte und wandte ihm das Gesicht zu. Margy war Eneas gefolgt. Sie hielt sich hinter seinem Rücken versteckt und lugte nur verstohlen an seiner Schulter vorbei.

„Ihr Herrschaften, bitte tretet näher! Ihr dürft gern meiner kleinen Schwester auf die Finger sehen. Sie macht das allerbeste und feinste Garn in der Stadt! Viele Tuchmacher und Schneider kaufen hier bei uns. Ishilea ist eine Berühmtheit in Talamarn"!

Während er sprach war er aufgesprungen und verbeugte sich mehrfach vor Margy und Eneas. Beide standen sie nun unter dem Torweg und sahen auf die Geschwister herab. Unverwandt hielt das Mädchen den Blick gesenkt und starrte auf ihre Arbeit. Selbst als sie ihren Bruder rügte hob sie nicht den Kopf. „Basti, du sollst nicht immer so übertreiben", tadelte sie mit einer Stimme, die des Jägers Herz berührte. „Bring mir lieber noch etwas Wolle. Meine scheint gleich zur Neige zu gehen". Sie streckte die Hand in Richtung ihres Bruders aus. Noch immer hielt sie den Kopf gesenkt. Eneas stutzte. Jedoch war er um eine Winzigkeit schneller als der Junge und reichte ihr aus einem großen Korb eine Handvoll. Ihre Finger berührten sich, als er die Wolle in Ishilea's Hand schob und sie zuckte leicht zusammen. „Basti", fragte sie leise.

„Nein, Ihr seid nicht mein Bruder! Und doch danke ich Euch"! Noch einmal tasteten ihre Finger flink über seine Hand. „Ihr seid ein Herr, der es gewohnt ist, zu arbeiten. Und ihr seid viel in der Natur, denke ich", sinnierte sie leise. Plötzlich hielt sie erschrocken inne. „Verzeiht mir, hoher Herr, so ich Euch belästigt habe"! Noch immer war ihr Blick gesenkt, was den Jäger irritierte. Fragend sah er sich zu Margy um, doch diese zuckte nur ratlos mit den Schultern. Der mit„Basti" Angesprochene mischte sich ein, als er sich verschämt zu Wort meldete, um die Situation aufzulösen. „Bitte verzeiht, Herr, aber meine Schwester ist blind! Sie hält ihr Haupt nicht aus Unhöflichkeit gesenkt, sondern, um Euch nicht zu erschrecken".

Irritiert blickte der Jäger erst den Knaben und dann das Mädchen an. Langsam ging er neben der kleinen Spinnerin in die Knie, die gerade wieder zu reden anfing. „Es ist nicht wahr, was mein Bruder sagt - glaubt ihm nicht! Ich bin nicht blind! Meine Augen können sehen, jedoch das Licht gelangt nicht zu meinem Herzen". Während sie sprach hatte sie die Arbeit eingestellt und das Spinnrad kam zur Ruhe. Sie spürte die Nähe eines Menschen und hob leicht den Kopf: „Seid Ihr das, hoher Herr"?

„Ja, ich bin es"!

Ganz vorsichtig streckte er seine Hand aus und berührte das Mädchen am Kinn. Langsam hob er ihren Kopf und drehte ihr Gesicht dem Seinen zu. Die Augen waren glanzlos. Ishilea's wandte den Kopf ängstlich ab und bettelte: „Bitte, Herr, tut mir nichts"!

Tara's TräneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt