Der Morgen war schwül. Es hatte die ganze Nacht hindurch geregnet.
Spät erwachte der Jäger und fühlte sich müde und ausgelaugt. Doch als er an die Erlebnisse der Nacht dachte, musste er schmunzeln. Jenny hatte ihn leidenschaftlich gequält, als wolle sie drei Winter aufholen. Und er hatte diese Folter genossen. Erst sehr spät waren sie, völlig ermüdet, jedoch glücklich und eng umschlungen eingeschlafen. Eneas tastete neben sich, jedoch das Lager war leer. Jenny war schon wach und von draußen erscholl das Lachen des kleinen Mädchens Talimee, seiner Tochter. Jenny hatte ihr Kind nach der Frau benannt, die sein gesamtes Leben geprägt hatte und die selbst so lange nach ihrem Tod in seinen Gedanken noch lebendig war. Wehmut streifte seine Seele. Doch er schob die Gedanken beiseite und erhob sich. Neben dem Lager lagen auf einem niedrigen Schemel einige Kleidungsstücke, die sauber und ordentlich zusammengelegt waren. Vergeblich suchten des Jägers Augen nach seiner eigenen Kleidung. Er konnte sie nirgends entdecken. Zögernd nahm er die Sachen vom Schemel und probierte sie an. Die derbe,schwarze Leinenhose war zwar an den Beinlingen etwas zu kurz, jedoch passte sie in der Taille. Das wollene, graue Hemd dagegen schien wie für ihn gemacht zu sein. Eneas kleidete sich an und lief hinaus.
Draußen spielten die Kinder vor dem Haus und warfen kleine Steine in eine Pfütze. Es spritzte hoch auf. Das Mädchen lachte heiter und klatschte in die Hände. Eine Weile schaute der Jäger stumm ihremTreiben zu. Als die Kinder ihn bemerkten, hielten sie inne in ihrem Tun. Zwei Paar fragende Augen sahen zu ihm auf. Es war das Mädchen,welches nach einem kurzen Zögern auf ihn zu kam und wortlos die Arme hob. Eneas bemerkte, dass sie die linke Hand geschlossen hielt, doch die Aufforderung, sie hoch zu nehmen war dringender als seine Frage.
„Du bist also Talimee"? Das Mädchen nickte: „Tami, ja".
Nun fiel es Eneas plötzlich wie Schuppen von den Augen. Die Kinder hatten in ihrer eigenen Sprachweise die Namen verändert und ausTalimee war Tami geworden. Folgerichtig musste aus Eneas dann auch Enas werden. Leise und begreifend lachte der Jäger, was ihm einen fragenden Blick aus tief dunklen Augen bescherte.
„Weißt Du auch, wer ich bin", wollte er wissen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass der Junge herangetreten war und aufmerksam lauschte. Doch der Jäger sah das Mädchen fest an und bekam auch prompt eine Antwort: „Ja! Papa"! Talimee sprach mit solcher Überzeugung, dass es dem Jäger die Sprache verschlug. „Woher weißt Du, dass ich Dein Vater bin"? Auch diese Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Ich weiß das"! Sie tippte ihm mit ihren kleinen Fingern auf seine Brust und meinte mit ernster Miene: „Du warst lange weit fort. Aber jetzt nicht mehr.Mama weint nicht mehr. Alles gut".
Sie nickte dabei und in dieser kindlichen Geste lag so viel Ernst, dass es den Jäger schauderte. Woher nahm das Kind diese Gewissheit? Sie war gerade einmal 3 und einen halben Winter alt, doch die Überzeugung, die sie in ihre Worte legte, war die eines Mädchens von mindestens 10 oder mehr Wintern. Eneas schaute auf den Jungen herab und sah ihm in die Augen. Auch sein Gesicht war ernst und der Jäger erkannte Ehrfurcht im Blick des Knaben. Eneas wurde unheimlich zumute. Langsam ließ er das Mädchen herunter und ging in die Knie.Lange blickte er wortlos seinen Sohn an, der ihn seinerseits aufmerksam musterten. Noch immer hielt das Mädchen die Linke zur Faust geballt. „Möchtest Du mir zeigen, was Du Schönes in der Hand hältst, Talimee"?
Er hatte die Frage kaum gestellt, als ihn die Antwort auch schon wie ein Faustschlag traf: „Nein"! Das Mädchen drehte sich weg und verbarg die Hand hinter ihrem Rücken. Eneas spürte eine plötzliche Kälte, die zwischen ihm und dem Kind aufkam. Um die Situation zu entspannen, verlegte er sich aufs Bitten. „Schau,Talimee, wenn man etwas Bemerkenswertes hat, so kann man doch die Freude darüber mit Jemandem teilen, oder"? Auch der Junge schien Interesse daran zu haben zu erfahren, was seine Schwester in ihrer Hand vor fremden Blicken zu verbergen suchte. Doch das kleine Mädchen blieb eisern. „Nein! Meins"!
DU LIEST GERADE
Tara's Träne
FantezieDie Träne der Göttin Tara ist ein magisches Artefakt und unschätzbar wertvoll für jene, welche die Macht des Steines kennen und zu nutzen wissen. Der Jäger Eneas vom Schattenbach wird durch einen tragischen Unglücksfall zum Hüter dieses Kleinodes. Z...