Ragnarök - Sommerregen✔️

Chapter Twenty-One: Endspiel

Ich hatte einige Minuten mit meinen Eltern und anschließend auch mit Jennifer und Liam telefoniert. Meinem Vater ging es glücklicherweise nicht schlechter – wenn auch nicht besser. Meine Freunde vermissten mich bereits und ich versprach ihnen bald wieder nach Amerika zu fliegen. Soo schön es hier auch war, ich wusste es war nur ein kurzer Aufenthalt.

Loki hatte sich direkt nach unserer Rückkehr in unser Zimmer begeben und ich lief durch die Flure des Anwesens. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis nach etwas mehr Zeit für mich. Ich genoss die Stille und den vertrauten Geruch nach Heimat. Draußen stand die Sonne bereits tief am Himmel, als ich an der Bibliothek meines Großvaters vorbei kam. Die Tür stand einen Spalt offen und goldene Sonnenstrahlen schienen durch den Spalt auf den Boden des Flures. Langsam drückte ich die Tür weiter auf und betrat das Heiligtum Bjarnes. Als Kind hatte ich diesen Ort nie alleine betreten dürfen, da viele der Bücher alt und unfassbar kostbar waren. Da konnte er es nicht riskieren, dass dreckige kleine Kinderfinger die vergilbten Seiten der Bücher beschmutzten. Andächtig lief ich durch den Raum und warf einen Blick auf all die großen Regale aus dunklem Holz an den Wänden, die bis fast unter die hohe Decke reichten. Mittig in der Bibliothek stand ein alter Schreibtisch zusammen mit einem verschnörkeltem Sessel. Ich ließ mich auf das weiche Polster fallen und warf einen Blick auf das Buch vor mir.

Es war aufgeschlagen, als hätte mein Großvater erst vor kurzer Zeit darin gelesen. Die Seiten waren rissig und bräunlich durch die Zeit. Doch noch konnte ich lesen, was auf dem Einband stand. Es war nichts Geringeres als die Edda. War das ein Zufall? Vorsichtig nahm ich das Buch ganz in die Hände und warf einen Blick auf die geöffnete Seite. An den Rändern waren Zeichen und Muster zu erkennen, die einen Schriftblock säumten.

Dieses Exemplar war viel dicker, als die Version, die wir während der Vorlesung von Loki bekommen hatten. Während er fort gewesen war, hatte ich einiges darin gelesen, doch nie war ich an die Stelle gelangt, die sich mir nun offenbarte. „Völuspa" stand dort und darunter „Der Seherin Weissagung". Es waren viele kurze Absätze und ich versuchte die Schrift zu entziffern.

„Unerhörtes ereignet sich, großer Ehbruch.

Beilalter, Schwertalter, wo Schilde krachen,

Windzeit, Wolfszeit, eh die Welt zerstürzt."

Ich konnte zwar nicht jedes Wort verstehen und es gab leider auch keine Randbemerkungen, wie bei meiner Version. Doch eins war mir sofort bewusst: es ging um Ragnarök. Loki hatte davon im Auto gesprochen und damit das Ende aller Welten gemeint. Dazu kam noch, dass ich nun auch verstand, was es wohl mit dem Titel auf sich hatte. Loki hatte ebenfalls erwähnt, dass man das Schicksal verändern könne, wenn auch Odin ihm nie zugehört hätte im Bezug darauf. Was, wenn ich hier gerade wirklich die Zukunft der drei Nornen las. Die Geschichten im vorderen Teil des Buches stimmten ja auch alle zum großen Teil. Natürlich hatte jeder eine andere Sichtweise, doch wenn dies hier wirklich irgendwann – laut Loki gar nicht mehr in so weiter Ferne – geschehen sollte, so wollte ich wissen, was mit ihm und all den anderen geschehen würde. In diesem Moment war ich sowohl froh, als auch beunruhigt zugleich, dass der Gott mir gegenüber kurz die Fassung verloren hätte. Sonst wüsste ich nun nicht, dass es ein aktuelles Thema bei den Göttern war und nicht nur eine gruselige Gutenachtgeschichte. Neugierig las ich weiter, ließ dabei aber immer wieder einige Passagen aus, wenn ich nicht wirklich verstand, um was es ging.

„Mimirs Söhne spielen, der Mittelstamm entzündet sich

Beim gellenden Ruf des Giallarhorns.

Ins erhobene Horn bläst Heimdall laut;

Odin murmelt mit Mimirs Haupt."

Ich wusste dass mit dem Mittelstamm nur der Yggdrasilbaum gemeint sein konnte. Wenn dieser brannte, so würde das Feuer mit Sicherheit die Neun Welten erreichen, verbanden doch seine Äste alle miteinander. Ich mochte düstere Geschichten und wäre dies auch nichts weiter als erfunden, so hätte ich es als spannend und unterhaltsam empfunden, doch so krampfte sich mein Magen immer mehr zusammen. Bisher kannte ich nur Odin und Heimdall vom Namen. Ich musste mich überwinden weiter zu lesen.