IV

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Ein Jahr ist nun vergangen. Ein Jahr voller verrückter Momente. Ich habe wieder beschlossen, etwas in dieses Buch einzutragen. Ehrlich gesagt, ich habe mir den allerersten Eintrag durchgelesen - und ich bin immer noch sprachlos. Ich meine, das ist meine ziemlich junge Vergangenheit, die ich da aufgeschrieben habe. Natürlich will jeder aus meiner Gang etwas darüber erfahren. Abgelehnt: Ich habe für mich beschlossen, diese Scheiße in einen Safe zu sperren, diesen mit einer dicken Stahlkette zu umwickeln, und irgendwo in ein tiefes Gewässer zu stoßen. Niemand wird je etwas darüber erfahren. Niemand. Nicht einmal Tai Paxton, mein Mentor. Dieses Kapitel ist fertig, ich werde es nicht von Neuem beginnen.

Wie dem auch sei. Es ist abends. Okay, kann man diese Uhrzeit noch als abends bezeichnen? Es ist kurz nach zehn Uhr. Eigentlich hätte ich mich schlafen gelegt, aber nicht hier. Ich habe das Gefühl, dass die ab neun Uhr total durchdrehen. Laute Musik, viel Gelächter und scherzhafte Beleidigungen. Vom Alkohol will ich gar nicht erst anfangen zu reden. Es vergeht kein Tag, an dem diese Flüssigkeit nicht konsumiert wird. Zwei Leute sind mir dabei besonders aufgefallen, aber solange sie sich im Griff haben, muss man nicht einschreiten. Das hat man mir zumindest mitgeteilt, obgleich ich darüber zweifele. Na ja, also. Ich sitze hier, habe sogar eine eigene Unterkunft bekommen. Ich bin in ihrem Quartier. Hätte nicht gedacht, dass die sich so etwas errichtet haben. Vorher bin ich davon ausgegangen, dass die Gangs sich irgendwo in dieser Stadt als Gemeinsames treffen und so. Falsch gedacht. Und diese Zimmer, falls man die so nennen kann, sind nicht schlecht. Sind sogar gemütlich. Gut, es kommt darauf an, wie man sie gestaltet und einrichtet. Meins ist spärlich, aber das macht nichts. Wichtig ist, dass ich dort das Nötigste an einem Fleck habe. Ein paar Schreibgeräte, Unterlagen. Meine wertvollen Fotos und dann der Elektronikkram, den ich mitgenommen habe. Ich habe mit Tom gesprochen; morgen werden wir beginnen, ein paar Dinge neu zu gestalten. Wer Tom ist? Ich schätze, ich sollte es notieren - wer weiß, ob er bis zum nächsten Jahr durchhalten wird.

Tom Dacher. Das ist sein Name, und er ist zwanzig, also älter als ich. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich der Jüngste hier bin. Bisher ist mir noch niemand unter die Nase gekommen, der jünger als siebzehn Jahre ist. Okay, so viel dazu. Tom Dacher ist eine neue Bekanntschaft, die ich gleich zu Beginn gemacht habe. Anders als die anderen oder anders als der Großteil dieser Jungs hat er mich nicht verachtet und mich verbal fertiggemacht. Er glaubt an mich und weiß, dass in mir ein verborgenes Potential schlummert. Er wartet auf den Tag, an dem ich es wecke und nutze. Ich muss nur mein Training darauf abzielen. Und er hat mir seine Unterstützung zugesichert. Ich habe also in dem Moment die wahre Bedeutung von Loyalität verstanden, und ich bin ihm immer noch tierisch dankbar. Tom und ich werden also morgen anfangen, meine neue Unterkunft umzugestalten. Ich bin ehrlich: Ich freue mich darauf.

Was sonst noch passiert ist? Eigentlich eine ganze Menge, auch wenn nur ein Jahr verstrichen ist. Ein Jahr. Für manche mag es lang klingen, aber nicht hier. Aber dazu werde ich viel später kommen. Ich könnte theoretisch jedes Ereignis kurz festhalten. Habe ich es tatsächlich vor? Nein. Würde ich beginnen, wäre ich immer noch nicht fertig. Da ist einfach zu viel passiert. Fangen wir mal mit dem Auftrag an, den die wenigen Schützen erhalten haben. Wir sind insgesamt einhundertelf Leute hier; dreizehn sind erfahrene Schützen. Also wenig. Die sollten Kuriere aus der feindlichen Gang ausschalten, die sich im Stadtzentrum aufgehalten haben. Dass es sich um einen großen Fisch gehandelt hat, habe ich einem späteren Bericht entnehmen können. Aber die Moral von der Geschichte: Ein Schütze ist draufgegangen, dennoch ist der Auftrag geglückt. Die drei Kuriere sind tot, der Käufer ist verwundet worden. Ich meine, wenn ich von Fische rede, meine ich nicht die kleinen. Sind schon die großen. Die, die sich einen speziellen Namen gemacht haben. Tja, jetzt existieren statt dreizehn zwölf Schützen. So schnell kann einer aus der Welt verschwinden.

Die zweite Sache ist der miese Überraschungsangriff gewesen, als einige von uns durch das Gebiet gezogen sind, um nach dem Rechten zu schauen. Und dieses Mal habe ich mich mitten drin befunden. Scheiße, das ist vielleicht eine Auseinandersetzung gewesen. Ich habe meine allererste ernste Stichwunde bekommen. Irgendwo auf dem Rücken. Man hat schon Stunden gebraucht, um die zu versorgen. Die nächsten Wochen habe ich im Quartier verbringen dürfen, ohne Training, was mich richtig angekotzt hat. Aber ich habe es akzeptiert.

Ein Atemzug entfernt IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt