Lange hat sie sich nicht in der Bibliothek aufgehalten. Ständig diese durchbohrenden Blicke in ihrem Rücken. Irgendwann hat Li-Wen es nicht mehr ausgehalten, hat das Buch zurückgestellt und hat den Tisch verlassen. Kaum hat sie die Tür geschlossen, hat sie gedämpfte Unterhaltungen hören können. Natürlich haben die Anwesenden solange gewartet – in ihrer Gegenwart braucht man über den mäßig tolerierten Gast nicht sprechen. Wo sie im Anschluss hingegangen ist? Li-Wen hat den Weg zu dem Trainingsplatz eingeschlagen. Dieses Mal hat sie deutlich weniger Zeit benötigt. Einmal ist die junge Frau falsch abgebogen und hat eine Ehrenrunde drehen dürfen.
Li-Wen ist näher herangetreten, hat rasch erkannt, dass nun andere Mitglieder den Waffenumgang verfeinern oder gar erlernen. Der Trainer ist der gleiche Mann – hochgewachsen, muskelbepackt und eine Frisur, die einem schwarzen Helm ähnelt. Er hat die Arme hinter dem Rücken verschränkt und wandert ununterbrochen hinter den angehenden Schützen entlang, bellt vereinzelt harsche Befehle oder Hinweise.
Die junge Frau setzt sich ebenfalls in Bewegung und verlässt den schutzspendenden Halbschatten. Weißes Licht strahlt von oben herab und taucht die Mitglieder in künstliches Licht. Die Zielscheiben sind ungefähr fünfzehn Meter von den jungen Schützen entfernt – eine weiße Linie markiert den erforderlichen Standpunkt. Das ist genau wie bei mir, denkt Li-Wen, und Verblüffung glitzert in ihrem Gesicht. Der Trainer ordnet die Position an, und die Anfänger folgen dem so gut wie möglich. Ihr geschultes Auge entdeckt die Fehler sofort; eine falsch eingenommene Haltung, die Schusshand bebt ein wenig, die Spannung fehlt oder die Waffe wird zu schief gehalten. Strenge, Härte, Gnadenlosigkeit, hohe Ansprüche, dennoch funktioniert es.
„Achtung!", ruft der Mann klar und deutlich, und sogleich werden die Pistolen geladen. Ein systematisches Klicken. „In Position!" Li-Wen beobachtet die Szene. „Clarkson, Waffe höher und sorg' für den verdammten festen Stand! Du haust dir die Pistole wieder ins Maul!" Der Angesprochene empfindet anscheinend keine Verlegenheit. Mit einem hochkonzentrierten Gesichtsausdruck bessert er die festgestellten Fehler aus. „Und ... jetzt!"Li-Wen zuckt etwas zusammen, als der Knall losgeht. Drei weitere Kugeln werden abgefeuert. „Hennemann, was soll die Scheiße? Hast du 'was mit den Augen? Verdammte Scheiße, du sollst die verfluchte Scheibe treffen und nicht die Wand!" Der Trainer schüttelt genervt den Kopf. „Du wirst jetzt zehn weitere Schüsse abfeuern, und wenn ich sehe, dass du wieder keinen einzigen Treffer erlangt hast, kannst du heute die gesamte Halle allein sauber machen!"
Da wird wohl jemand eine ganze Menge Arbeit auf sich nehmen müssen. Li-Wen blickt sich um. Mehr als zwei Stunden kann man durchaus einplanen. Der arme Hennemann. Sie beschließt, die waffenlosen Kämpfer zu beobachten. Langsam wagt sie sich mehr in die Halle vor und hält sich möglichst weit entfernt von den angehenden Schützen. Die Befehle werden von Neuem ungalant durchgegeben. Wieder dieser laute Knall, das Zersplittern von Holz oder der dumpfe Aufprall der Kugel, die die Wand getroffen hat. Ach, dort vorne sind sie. Li-Wen huscht um eine Ecke, nachdem sie einen breiten Durchgang passiert hat. Dass hier überall Waffen diverser Arten achtlos herumliegen oder an den Wänden lehnen und hängen, scheint niemanden zu interessieren. Würde man in meiner Behörde nur ein mickriges Messer vergessen, hätte man ein Sonderkommando auf seiner Seite.
In diesem Teil der Halle hat man weniger Lampen an der Decke befestigt. Etliche Stellen sind von kraftlosen Schatten überzogen worden. Er fällt kleiner aus, vielleicht kommt es ihr nur so vor. Viele sportliche Utensilien. Li-Wen hebt die Augenbrauen und schaut unverwandt zu dem provisorisch errichteten Ring, bestehend aus schiefen Pfosten und durchhängenden Seilen. Rings darum hat sich eine Schar Mitglieder angesammelt. Der Rufe nach zu urteilen, ereignet sich dort etwas, und es klingt nicht nach etwas Positivem.
Li-Wens Magen rumort leise, zögert für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie sich dem Ring nähert. Tatsächlich; die Versammelten feuern niemanden an, nein. Sie klingen eher panisch, unruhig, aufgewühlt und verzweifelt. Was geschieht dort?
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Ein Atemzug entfernt I
Action"Menschenleben werden dem Geld untergeordnet." Li-Wen Chen, eine Frau, die sich dem deutschen Staat verpflichtet hat, wird auserwählt, um den angehenden Drogenhändler Kaden Larkin aus dem Verkehr zu ziehen. Der Hass steigt an, als sie in einer U-Ba...