I

45 3 0
                                    

„Es tut mir schrecklich leid, aber ich muss mich beeilen. Bin so oder so schon zu spät dran." Sie zwängt sich an Fabian vorbei und hält im Flur inne. Beinahe wäre die Handtasche aus ihren Händen geglitten. „Beim nächsten Mal, okay? Dann hab' ich nichts gegen ein Stück Kuchen einzuwenden. Aber gerade passt's mir nicht." Sie macht einen Schritt nach hinten.

„Merke ich gerade. Ich bin es eh leid, ständig nachzuhaken." Fabian setzt einen Schritt zur Seite, damit Li-Wen die Tür abschließen kann. „Wir sehen uns morgen wieder. Und bitte ... Versuch', dir weniger Stress zu machen. Damit kommst du nicht weit. Kannst du mir ruhig glauben." Die folgenden Worte gehen in einem kapitulierten Seufzer unter, als sie sie umgedreht hat und sich zunehmend von ihm entfernt. „Ist ja nicht so, dass ich mir Sorgen um dich mache." Mit einem letzten Kopfschütteln schlägt Fabian die entgegengesetzte Richtung ein. Den letzten Satz ist noch in ihre Ohren gedrungen und schicken scharfe Stiche durch sie. Li-Wen atmet langsam aus, bemüht sich, diese fiesen Reaktionen zu ignorieren. Es hat überaus verlockend gelungen, sein Angebot. Ein Stück selbstgebackener Kuchen, gerade frisch aus dem Ofen; ein Gedanke, der den Magen zum Knurren bringt. Sie hätte sich mit Tine austauschen können, über jedes Thema, und sei es noch so banal oder ernst. Die Gespräche mit Fabians Frau münden niemals in einer Sackgasse. Es kommt oft vor, dass die wenigen Stunden einen großen Raum einnehmen, dass aus einem Nachmittag eine späte Nacht wird. Li-Wen ist gerne bei ihnen, hat sogar Christian und Jana ins Herz geschlossen. Eine finstere Woge erhebt sich und beginnt, die geifernden Klauen auszufahren. Christian und Jana, die derweil im Fokus von Kaden stehen. Die Woge kriecht langsam voran und hinterlässt nichts anderes als eine frostige Kälte.

Li-Wen schiebt die Träger der Handtasche auf die linke Schulter, legt die Finger um sie. Die andere schiebt sie in die flache Hosentasche der Jeans. Die meisten, die ihren Arbeitstag in den Büros verbringen, haben das Ende eingeläutet. Es scheint, als seien die weiten Flure ausgestorben. Ab und an vernimmt sie undeutliche Konversationen, von irgendwo strömt der bittere Geruch des Kaffees her. Li-Wen blickt fest geradeaus, wohl darauf erpicht, einen gleichmäßigen Gang zu bewahren. Die Absätze werfen ein kurzes scharfes Geräusch ab, inmitten dieser Stille etwas befremdlich.

Schier tausende Gedanken stoben durch ihren Kopf, während Li-Wen den Fahrstuhl ansteuert. Sie holt die Hand aus der Hosentasche, drückt den Knopf durch und wartet. Gedanken, die düsteren Tatsachen. Der schreckliche Mord an Thilo. Thilo. Li-Wen senkt ein wenig den Kopf und beobachtet eine kleine Spinne, die hastig an ihren Schuhspitzen vorbeiläuft. Er ist nun tot. Wegen ihr? Li-Wen wird das Gefühl nicht los, dass sie einen Berg der Schuld selbst trägt. Immerhin hat sie ihn beauftragt, Informationen über Jakubs Bruder herauszufinden. Er hat in diesem Augenblick, in diesem fatalen Augenblick, sich gegen Kadens Seite geschworen. Dass diese Grauzone noch nie eine eindeutige Sicherheit gewährleistet und es auch nicht gekonnt hat, hat niemand abgestritten. Aber diese Herzensangelegenheit ... Ihr wird ein Schrecken beschert, als die Türen des Fahrstuhls aufgleiten. Niemand hält sich in der Kabine auf. Li-Wen betritt sie, steht mit dem Rücken zu dem Spiegel. Die schweren Türen schieben sich zu. Der Fahrstuck ruckelt etwas, ehe er die geforderte Etage anfährt.

Es besteht ein Zusammenhang, keine Frage. Und es existiert außerdem kein Zweifel, dass Kaden Wind von der Aktion bekommen hat. Er weiß nun, dass Jakub auf der verzweifelten Suche nach seinem Bruder ist. Der Grund, weshalb er endgültig aus der Gang ausgetreten ist. Kaden hat kein Mittel mehr, ihn bei sich zu behalten. Jakub hat sich aus dem einst eisernen Griff gewunden. Die Wut müsste währenddessen ins schier Unermessliche gestiegen sein – der Zusammenschluss mit Li-Wen macht es nicht gerade besser. Ein Schwerverbrecher und eine loyale Staatsbeamtin und beide mit dem gleichen Ziel: Die Macht des einflussreichen Drogenhändlers mächtig eindämmen.

Ein helles Signal ertönt, die Kabine öffnet sich. Li-Wen verlässt den Fahrstuhl und hält sich nun im übersichtlichen Erdgeschoss auf. Einige Zivilisten haben sich in dem Wartebereich niedergelassen, ein Herr hat eine Zeitung aufgeschlagen und die Nase zwischen die Seiten gesteckt. Ein Paketbote schiebt vier braune Bestellungen Richtung Rezeption, nachdem er die Sicherheitskontrollen hinter sich gebracht und durchgewunken worden ist. Li-Wen verabschiedet sich von der Empfangsdame, eine junge Frau, die soeben die Ausbildung abgeschlossen hat. Die Blondine wirft ihr ein freundliches Lächeln hinterher.

Ein Atemzug entfernt IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt