Was soll sie auch schon für Worte verlieren? Der gesamte Tag ist in sich zusammengebrochen und hat ein katastrophales Ausmaß angenommen. Viele einschneidende Kritiken, unzählige harsche Kommentare und bissige Zurechtweisungen. Stahlharter und kühler und apodiktischer Ton, ein emotionsloser Blick; Li-Wen hat sich immens gewünscht, dass der Erdboden sich auftun und sie verzehren würde. Sie ist degradiert worden; ist nicht mehr befugt, das Einsatzteam ebenfalls zu leiten. Sie darf nur noch stumpfe Befehle aufnehmen und ausführen. Ein dicker Kloß hat sich in der Kegle gebildet, sie hat ständig schlucken müssen. Li-Wen hat nichts dazu gesagt, auch wenn sie es hätte tun sollen. Herr Felder hat beinahe die Kontrolle über sich verloren, wäre nicht das restliche Team präsent gewesen. Das Schlimme aber ist gewesen: Er hat sie vor versammelter Mannschaft wie ein kleines ungehorsames Kind zurechtgewiesen. Schweißüberströmt und völlig verbittert hat sie den Kopf ein wenig gesenkt und ist abgezogen.
Hat zwei Stunden Extratraining nehmen dürfen. Herr Felder hat sie weitestgehend von den Aktivitäten ausgeschlossen; der unbedeutende Papierkram ist an Li-Wen hängen geblieben. Wortlos ist sie den Aufgaben nachgegangen. Sortieren, kontrollieren, aushändigen und wegheften. Man hat ihr keine neuen Informationen verraten. Auf dem neusten Stand ist sie nicht, aber Li-Wen findet es nicht weiter tragisch. Um ehrlich zu sein, der Ärger ist es ihr Wert gewesen. Sie hat wertvolle Anhaltspunkte gewinnen können und kann nun einen Händler aufsuchen gehen, der in indirektem Kontakt zu ihrem Ziel steht. Den ganzen Tag über hat sie diesem Moment entgegengefiebert – große Mühe hat Li-Wen aufbringen müssen, um sich nicht die Aufregung anmerken zu lassen. Der Blick hat sich ständig zu der Uhr geschlichen, manchmal hat sie das Gefühl gehabt, dass sie Zeit nicht vergeht. Ungeduld hat ihren Körper zum Prickeln gebracht, und Li-Wen hat die meisten Aufgaben langsamer erledigt. Im Büro zieht eine Sekunde kaum schnell an jemanden vorbei. Zehn Stunden lang hat die junge Agentin hinter dem weißen Schreibtisch gehockt und Dokumente studiert, die sich um den aktuellen Fall drehen.
Die meisten Aspekte kennt sie längst, jedoch hat Li-Wen sich zum wiederholten Male die Akten der drei Hauptpersonen zur Hand genommen. Kaden Larkin geht ihr nicht mehr aus dem Kopf, er hat sich dort festgesetzt und beeinflusst manchmal ihr Denken, auch wenn Li-Wen es nicht glauben mag. Sie hat über mögliche Beweggründe für den Schritt eines Verbrechers nachgedacht. So hat ihr Tag ausgesehen. Zehn Stunden trockene Büroarbeit, weitestgehend abgeschirmt von ihrem Team. Dementsprechend ist Li-Wen ziemlich froh gewesen, als die Uhr den Feierabend eingeläutet hat. Lange hat sie nicht mit den Gedanken gespielt. Die wenigen Sachen zusammengepackt, und Li-Wen ist wie ein zögerlicher Blitz aus dem Büro gezischt und hat es abgeschlossen. Schnellen Schrittes hat sie den Fahrstuhl aufgesucht. Niemand hat bisher eine Konversation mit ihr geführt. Auch wenn es ein wenig geschmerzt hat; Li-Wen ist auf einer Art dankbar, dass sie den heutigen Tag für sich allein zur Verfügung gehabt hat.
Der Plan für heute Nacht hat eine eindeutige Gestalt angenommen, die keine Schwächen zeigt und auch keine zulässt. Lückenlos und sicher. Li-Wen hat lange an ihm gefeilt.
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Es ist also soweit. Drei Minuten vor dreiundzwanzig Uhr. Der Oktober zeigt sich wieder einmal von einer kühlen und unbarmherzigen Seite. Li-Wen hat zwei Waffen mitgenommen; eine Schusswaffe, die bei dem Rücken verborgen ist und ein Messer, das am linken Sprunggelenk befestigt ist. Die Muskeln ächzen leise vor Schmerz, dennoch kann Li-Wen sie vollständig beanspruchen, sollte es zu solch einer Situation kommen. Sie hat die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, der Blick segelt wachsam durch die stille Gegend. Es ist, als befände sie sich in einer kleinen verschlafenen Stadt.
Staaken ist ablegen, wiegt sich größtenteils in den Schlaf. Die meisten Lichter sind erloschen, viele Geschäfte haben das Schild umgedreht und die Gitter heruntergelassen. Wenige Passanten lösen sich aus den Schatten, nur um in den nächsten zu springen. Niemand scheint sich für Li-Wen zu interessieren. Li-Wen hat sich durch die Schrebergärten geschlängelt – aus einer Parzelle dröhnt Rockmusik in die Nacht. Der Geruch des Feuers hat die Geruchszellen angeregt.
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Ein Atemzug entfernt I
Action"Menschenleben werden dem Geld untergeordnet." Li-Wen Chen, eine Frau, die sich dem deutschen Staat verpflichtet hat, wird auserwählt, um den angehenden Drogenhändler Kaden Larkin aus dem Verkehr zu ziehen. Der Hass steigt an, als sie in einer U-Ba...