IV

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Zwei Uhr siebenunddreißig. Völlige Finsternis. Eine Zeit, bei der gewöhnliche Menschen mit einem intakten Biorhythmus sich schlafen gelegt haben. Li-Wen ist nicht fähig, auch nur ein Auge zu schließen. Wie ein wachsamer Hund hockt sie in der dürftigen Küche, eine kleine Lampe spendet spärliches Licht. Gerade noch ausreichend, um das Blatt Papier, das vor ihr liegt, zu erleuchten. Der Stift ist nach wie vor in der linken Hand.

Li-Wen starrt seit geschlagenen zehn Minuten die gezeichnete Skizze an – analysiert jedes Detail, jede sich dort versteckende Geste und Emotion. Sie kann sich glücklich schätzen, dass ihre künstlerischen Fähigkeiten stark ausgeprägt sind. Abbilder von Menschen fallen ihr besonders leicht. Viele von ihnen sehen der Realität ähnlich. Die jahrelange Geduldprobe und die zum Haare raufenden Augenblicke haben sich ausgezahlt. Li-Wen hat zunächst Phantomzeichner bei einer polizeilichen Behörde werden wollen; seither hat sie sich jeden Tag für mehrere Stunden an den Schreibtisch gesetzt und diverse Zeichnungen angefertigt. Dass sie dabei oft die schulischen Pflichten vernachlässigt hat, hat sie nicht interessiert.

Die Spitze ruht bei dem linken Auge. Langsam schwebt sie über das Blatt und hinterlässt dezente Schattierungen. Noch detaillierter, noch similärer mit der Wirklichkeit. Es ist, als hätte man einer Fotografie die Farben geraubt. Li-Wen hält inne und legt den Stift beiseite. Mustert das entstandene Bild. Zweieinhalb Stunden hat sie gebraucht, um es fertigzustellen. Die Schattierungen haben die meiste Zeit benötigt. Mit dem Zeigefinger fährt sie behutsam die Konturen des schmalen Gesichts nach. So zart, dass sie schon befürchtet, das Bild könnte sich auflösen. Dann die teilweise wohlgeformten Lippen mit dem matten Schimmer. Sie sind zu einem konzilianten Lächeln verzogen. Die Nase mit dem etwas längeren Nasenbein und zum Schluss diese Augen. Die Augen, die ganze Geschichten erzählen, ohne jemals den Mund dazu zu benutzen. An diesen Organen bleibt ihr Blick hängen. Selbst dieses Porträt übt eine seltsame Anziehung aus, und Li-Wen gibt sich ihr willig hin. Lässt zu, dass sie in das tiefe Schwarz abtaucht und immer mehr nach unten gezogen wird. Sie versinkt und wehrt sich nicht einmal dagegen. Li-Wen spürt Hass, blinde Wut und Verachtung. Die glatte Oberfläche ihres Inneren kräuselt sich leicht – konzentrische Kreise dehnen sich aus. Sein Abbild ermöglicht es ihr, seinen Gemütszustand darzustellen und sogar teilweise zu deuten. Li-Wen bleibt versunken. Wann sie den Grund der gähnenden Tiefe erreicht, weiß sie nicht.

Die Stille, die sich in der Wohnung ausgebreitet hat, kommt ihr fremd vor. Auch die Dunkelheit, die Li-Wen nur in der Küche von sich fernhalten kann. Sie hat Kaden Larkin gezeichnet, so detailliert, wie es ihr fotografisches Gedächtnis zugelassen hat. Hat sich die Augen und die Gesichtszüge besonders gut gemerkt. Die dunkelbraunen Haare, die sorgsam frisiert gewesen sind. Die winzige Narbe, die die Haut quer über die Lippen geteilt hat. Sein Lächeln, das er ihr kurzweilig geschenkt hat, als er wieder gegangen ist. Sie kneift die Augen zusammen und schießt wie ein Torpedo Richtung Oberfläche. Der Sauerstoff wird knapp, die Bewegungen werden hektischer. Li-Wen ist gar nicht aufgefallen, dass sie tatsächlich schneller atmet. Sogleich ruft sie sich zur Besinnung auf. Zählt bis zehn und bemüht sich, den gewohnten Rhythmus wiederherzustellen.

Sie greift nach dem Blatt und hebt es ein wenig an. Sie ist kaum imstande, den Blick von dem jungen Mann zu lösen. Li-Wen gibt zu, dass sie ihn faszinierend und interessant findet – sein bisheriges junges Leben könnte man problemlos in einem Buch verarbeiten. Genügend Stoff für eine Grundlage kann er problemlos aufbringen. Sie möchte mehr über ihn erfahren, seine Geschichte entdecken. Seine Fassade zum Einsturz bringen. Wer ist er? Wer? Was für ein Wesen verbirgt sich hinter der Fassade? Für Li-Wen steht eine Sache fest. Sie wird die Autorin seines Buches sein. Sie wird seine Geschichte festhalten und sie der Welt präsentieren.

Das Blatt sinkt zurück auf den Tisch, jedoch starrt sie die Zeichnung weiterhin an. Er ist ein Rätsel für sich. Ein leiser Seufzer flieht aus ihrer Kehle, und Li-Wen schiebt das Blatt Papier etwas von sich weg. Auf der Arbeitszeile liegt ihr Handy – zum Laden schließt sie es immer in der Küche an. Sie mustert es. Die Augenbrauen rutschen ein wenig in die Höhe; das kleine Lämpchen blinkt in einem regelmäßigen Abstand blau auf. Li-Wen stemmt sich hoch und zieht das Kabel ab, ehe sie sich wieder auf den Stuhl sinken lässt. Ein Anruf, den Fabian abgesetzt hat. Wie von allein fügen sich Puzzleteile in ihrem Kopf zusammen. Der Tod eines eigentlich unbedeutenden Dealers, die Uhrzeit; dreiundzwanzig Uhr fünfundundvierzig, kurz vor Mitternacht. Kurz vor dem Wechsel. Ein gezielter Schuss. Nirgends Spuren oder Anzeichen des Täters; Kaden Larkin arbeitet zu sauber.

Ein Atemzug entfernt IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt