IV

23 3 0
                                    

Sogar während des Frühstücks haben sie kein Wort gewechselt. Nur das eingeschaltete Radio hat die Stille ferngehalten, doch selbst dieser nervtötende, übertriebene Gesang hat ihre Laune nicht angehoben. Vielmehr hat sie sie weiter heruntergezogen. Li-Wen hat sich rasch eingekleidet, die morgendliche Routine abgelaufen. Die schwarzen Haare wellen sich bis zu der Mitte des Kreuzes. Manchmal klebt ein Wassertropfen auf der Haut. Die Dusche ist eine Wohltat gewesen. Auch sie hat die Gedanken nicht fortjagen können – heute ist es soweit. Sie wird ihre Loyalität gegenüber dem Staat endgültig aufgeben, sie wird sich zu einer Verräterin mausern. Der Appetit ist ihr längst vergangen. Li-Wen erhebt sich, sammelt ihr Geschirr ein und stellt es in den Spüler. In ihren Rücken bohrt sich der ausdruckslose Blick von Jakub. Li-Wen bearbeitet die Innenflächen der Wangen, geht aus der Küche. Sie ahnen beide, was mit dem heutigen Tag auf sie zukommen wird. Li-Wen ist auf einer Art dankbar, dass keine Gespräche begonnen werden.

Der zweite Part ihrer vertrauten Rituale startet. Vor dem Spiegel des recht kleinen Badezimmers bleibt die junge Frau stehen. Sie mustert sich prüfend. Matt glänzende Augen; die braune Farbe funkelt kaum. Müdigkeit und Anzeichen der Erschöpfung zeichnen die Miene aus. Sie verengt die Augen und streicht mit dem rechten Zeigefinger über das Nasenbein. An einer Stelle stößt sie auf etwas Hartes, das sogleich mit einem pochenden Schmerz antwortet. Li-Wen seufzt genervt und beschließt, die Stelle nicht mehr anzurühren. Sie zeichnet sorgsam einen ihrer Meinung nach gelungenen Lidstrich, die Wimpern werden mehr betont. Li-Wen klimpert mit ihnen, dann tut sie das bisherige Werk mit einem knappen Nicken ab. Der Concealer folgt, um einen halbwegs erfrischten Eindruck zu vermitteln.

Einige Minuten sind vergangen. Ihre Blicke treffen sich. Li-Wen lächelt ihr Spiegelbild kurz an, welches die Geste automatisch erwidert. Die Müdigkeit lässt sich durchaus nicht mehr allzu auffällig sehen. Li-Wen beschließt, die gewellten Haare zu fixieren. Eine markante Wolke hüllt ihre schlanke Gestalt ein, während sie das Spray aufträgt. So oft wie möglich staut Li-Wen die Luft in den Lungen an; ungern will sie die Wolke einatmen, die häufig einen üblen Geschmack auf der Zunge hinterlässt.

„Meiner Meinung nach, du sehen schon sehr gut aus. Du müssen nicht nachhelfen." Sie stellt die schwarze Dose zurück in das schmale Regal. Li-Wen schaut in den Blick, unmittelbar zu dem Polen, der sich an den Türrahmen gelehnt hat.

Sie zuckt mit den Schultern und fischt die silberne Kette aus der Box, die neben dem Seifenspender steht. Eines der sehr wenig übrig gebliebenen Fragmente ihrer vergangenen Beziehung. Li-Wen hat es nie übers Herz gebracht, dieses teure Schmuckstück zu entsorgen. Eine Schwalbe als Anhänger, sie ruht auf der Fingerkuppe. Li-Wen erfasst sie still mit den Augen, meint, dass dieser winzige Vögel alsbald mit den Flügeln schlagen und losfliegen wird.

„Sollen ... ich dir helfen?" Er versucht, ein Gespräch aufzubauen. Li-Wen ist nicht danach, allerdings folgt ein kurzes Nicken. Jakub stößt sich von dem Türrahmen ab, nimmt ihr die Halskette ab. „Die seien hübsch. Vogel sollen sein Schwalbe?" Keine Antwort von ihr. Jakub bleibt dicht hinter ihr stehen, offensichtlich etwas getroffen wegen ihres Beschlusses, in der Stille auszuharren. „Dziękuję. Also ... wegen Liste für nachher. Immerhin, ich haben 'was zu machen. Und sitzen nur in Wohnung und machen nichts." Keine Antwort. Jakub setzt es mehr zu, als er zugeben will. Li-Wen fasst nach ihren Haaren und hebt sie hoch, damit die Kette sich um ihren Hals schmiegen kann. Das glatte Material berührt die Haut. „Okay, das, es müssen sein gewesen."

Jakub zögert, bevor er einen halben Schritt nach hinten weicht. Li-Wen wirft ihm einen flüchtigen Blick zu. Die Schwalbe funkelt im Licht. Die innere Stabilität wird etwas wiederhergestellt, die Seele ein wenig entlastet. Sie geht an ihm vorbei, in den Flur. Li-Wen ist nicht wütend auf ihn, enttäuscht oder dergleichen. Es sind die Umstände, die ihr zusetzen. Der kaltblütige Mord, der Staatsverrat, die Beihilfe zum entscheidenden Aufstieg innerhalb Europa. Sie nimmt die Tasche, schlüpft in das übliche Schuhwerk. Schummelt sich um ein paar Zentimeter größer.

Ein Atemzug entfernt IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt