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Die letzten Stunden dehnen sich extrem aus, und Li-Wen hat das Gefühl, dass die Zeit nicht vergehen will. Sie hat sich oft dabei erwischt, wie sie zu der großen Uhr gelinst hat. Hat sie es sich eingebildet oder hat der Sekundenzeiger auf einer Stelle ausgeharrt? Li-Wen schnaubt laut und streicht gedankenverloren über das Keyboard hinweg. Währenddessen hat sie die Personalien des kleinen Händlers aufgenommen, mit dem sie fälschlicherweise eine Konversation geführt hat – zu ihrem Glück hat der eigentlich ausgedachte Name einen Treffer erzielt; dieser Kerl steht seit Längerem unter Beobachtung der Behörden. Glück im Unglück oder wie man so etwas nennt.

Die Protokolle liegen angefertigt und beendet in der Nähe der Tischkante, insgesamt sieben Unterlagen. Lange hat Li-Wen sich mit ihnen nicht herumschlagen müssen; die Arbeit hat sie schneller beendet, als sie zunächst angenommen hat. Steht überhaupt noch Arbeit an? Nein, Li-Wen hat die Erwartungen des heutigen Tages erfüllt. Ein neuer Fall ist außerdem nicht eingekommen. Sie kann sich getrost mit etwas anderes beschäftigen.

„Mann, diese Büroarbeit ist schrecklich", brummt sie und lässt sich zurückfallen. „Und ich muss noch ganze zwei Stunden 'rumkriegen." Zwei Stunden in dieser Zelle? Li-Wen schiebt den Stuhl zurück und steht auf. „Nicht mit mir." Sie sammelt das Handy ein, stopft es in die Hosentasche und stiehlt sich an dem Tisch vorbei. „Ich brauche erst einmal etwas zwischen die Zähne. Mit leerem Magen kann ich nicht weiterarbeiten."

Der USB-Stick liegt sicher verborgen in einem Fach des Portemonnaies. Er ist wie ein Fremdkörper, den Li-Wen vehement loswerden will. Unbehagen flutet sie, und Li-Wens Fingerkuppen fahren für eine Sekunde darüber hinweg. Es ist, als hätte sie soeben die Finger in einer offenen Flamme gehalten, so schnell ist Li-Wen zurückgezuckt. Die Stirn glüht schwach. Li-Wen bemüht sich, die anfänglichen Wellen aufzulösen, indem sie tief durchatmet und sich immer wieder einredet, dass es für Fabians Wohl ist. Für ihn und Jakub, schießt es ihr durch den Kopf, während die junge Frau aus dem Büro tritt und folglich den Schlüssel in das Schloss jagt, um es umzudrehen. Knirschend wendet es sich, und der Schlüssel verschwindet wieder in der anderen Hosentasche.

Langsamen Schrittes sucht Li-Wen die Kantine auf. Dass sie währenddessen angestarrt wird, scheint in das Vergessen geraten zu sein. Sicher, sie ist ein Gesprächsthema, besonders nach dem Gremium mit der Führung. So etwas sickert rasch durch, sodass auch gewöhnliche Arbeitnehmer davon etwas erfahren. Nicht einmal eine Woche ist vergangen, und ich habe schon so viel Scheiße am Stecken. Erst Kaden, dann das mit der Degradierung und der Exklusion und jetzt die Sache mit den Daten. Oh, ich habe etwas vergessen. Sie verzieht den Mund und hegt den Wunsch, spontan im Erdboden zu versinken. Jakub, richtig. Ich habe mich entschieden, einem Schwerverbrecher zu helfen. Wo kann man noch einmal die Papiere für eine Kündigung anfordern? Li-Wen schüttelt kurz den Kopf und formt die linke Hand zu einer Faust. Pflichtbewusste Arbeit habe ich mir anders vorgestellt. Es ist schrecklich, wenn man ein Spiel zwischen zwei Fronten treibt. Auf welche Seite sollte man sich schlagen? Sie müsste sich ganz klar auf die Seite ihres Arbeitgebers wiederfinden und dort das Spiel fortsetzen. Eigentlich. Aber nicht ich. Ich bin lieber ein verfluchter Doppelspieler. Sowohl für Deutschland als auch gegen. Gütiger Gott, wenn das jemand herausfinden sollte ... Ich bin erledigt.

Li-Wen steuert das Treppenhaus an. Bewegung würde ihr am ehesten wohltun und die Nebelschwaden in dem Kopf ein wenig lichten. Wie fremdgesteuert tastet sich eine Hand zu dem Handy. Li-Wen stößt die recht schwere Tür auf und huscht in das stille Treppenhaus. Monochrome Wände, blitzblank polierte Stufen und Streben. Nirgendwo befindet sich eine Staubflocke oder gar ein –korn. Li-Wen blinzelt zu dem halb geöffneten Fenster. Der Wind pfeift leise durch das Treppenhaus. Noch ehe sie einen richtigen Blick auf das Gerät geworfen hat, tutet es auch schon los. Li-Wen hält es sich etwas überrumpelt an das Ohr und begibt sich in das Erdgeschoss. Die Wände werfen das gleichmäßige Geräusch der Schritte wieder.

Ein Atemzug entfernt IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt