Was mache ich hier? Warum zur Hölle legen sie mich nicht einfach um? Ich bedeute ihnen nichts – ich bin schließlich jemand, der sich dem Staat verpflichtet hat. Ich bin sozusagen ihr größter Gegner.
Li-Wen hat sich in der Zwischenzeit von dem Bett geschoben und hält sich nun vor dem Fenster auf. Es ist sauber, das Glas ist kühl. Ihr Blick schwebt gedankenverloren durch die Gegend. Viel kann sie nicht erkennen; irgendwo in Berlin, in einem Gewerbegebiet. Rings umher erstrecken sich weitere Lagerhallen, kleinere Fabriken, die jedoch größtenteils verlassen sind. Weiter vorne haben Menschen sogar einen Wohnblock errichtet – auch dort hausen keine Bewohner mehr. Li-Wen hat nicht gewusst, dass es in Berlin solche Plätze gibt. Sie hat bisher die prächtigen Facetten der Stadt begutachten dürfen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich nur hier bin, weil die Geld brauchen. Gerade Larkin braucht diese Sorgen nicht zu pflegen, er verdient gut mit seinen illegalen Machenschaften. Sie seufzt leise und legt die linke Hand auf das ebene Holz des Rahmens. Was bin ich überhaupt? Ein Gast oder ein Gefangener? Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich wie beides. Sie lässt den Blick ein wenig sinken und mustert das Fensterbrett. Eine dünne Staubschicht hat sich angelagert. Sie lassen mich nicht gehen, aber ich bin befugt, mich weitestgehend frei zu bewegen. Man behandelt mich außerordentlich gut. Was soll die Scheiße? Die Fingerkuppen streichen behutsam über das Holz. Ich kann noch nicht einmal Fabian oder dem Rest meines Teams Bescheid geben; mein Handy ist weg. Oh, nein, hoffentlich macht er sich keine Sorgen um mich. Eine verbitterte Miene setzt sie sich auf. Besonders mit Fabian ist es schlimm: Er geht gleich von Beginn an aus, dass sich irgendetwas Gravierendes ereignet hat. Ich muss schleunigst eine Möglichkeit finden, um ihn zu kontaktieren. Er muss es erfahren.
Stille. Überall. In ihrem Zimmer und im Flur. Sie will gar nicht erst erfahren, was die anderen machen oder wo sie sich aufhalten. Grobe Skizzen geistern durch ihren Kopf. Li-Wen wendet sich von dem Fenster ab und schaut sich zum wiederholten Male das Zimmer an. Sporadisch eingerichtet; nur das Nötigste ist hier angeordnet worden. Ein hüfthoher Schrank, zwei Regale. Ein abgewetzter Holztisch. Zwei Betten. Eins ungemacht, das andere nicht. Weiße Wände ohne Dreck und Flecke. Sie begibt sich zu einem der Regale. Das eine ist vollständig leer, in dem anderen hat jemand Bezüge und Decken eingeräumt. Die junge Frau bleibt stehen und mustert es schweigend.
Dass sie überhaupt Gedanken für diese Hypothese verschwendet hat, ist ziemlich absurd, jetzt, wo Li-Wen darüber nachdenkt. Als würde irgendwer hier vertrauliche Dokumente aufheben. Ihre Hände fahren über die ordentlich zusammengefalteten Bezüge, anschließend über die dunklen Decken. Ich muss unbedingt von hier verschwinden. Mein Team braucht mich, besonders jetzt. Li-Wen setzt einen Schritt nach hinten und bleibt erneut stehen. Aber erst muss ich aus diesem Zimmer heraus. Jason ist vor fünfzehn Minuten bei ihr gewesen, hat flüchtigen Blickes die versorgten Wunden überprüft und ihr eine einfache Speise gebracht. Li-Wen hat nicht alles vertilgt; Überreste liegen auf dem Teller. Zumindest fühlt sich ihr Magen befriedigt an. Bloß wie? Der Verstand beginnt zu rattern.
Wie von allein bewegt die junge Frau sich zu dem Fenster, sieht es sich genauer an. Eine Hand schließt sich um den Griff und dreht ihn. Mit einem Ruck springt das Fenster auf. Li-wen streckt den Kopf nach draußen, sieht herab. Drei verfluchte Stockwerke; ein Sprung in die Tiefe könnte gebrochene Beine verursachen. Sie presst die Lippen zusammen und blickt zu beiden Seiten. Die kleine Flamme der Hoffnung flackert zunehmend wilder. Keine Leiter, kein Gerüst. Nichts, an dem sie sich hätte in die Tiefe hangeln können. Die Fingerknöchel zeichnen sich sichtbar unter der Haut ab. Sie sitzt in der Falle. Ein verärgerter Laut rollt aus der Kehle, und Li-Wen unterdrückt das Verlangen, sich die Haare zu raufen.
Mir bleibt nichts anderes übrig; ich muss die Tür benutzen. Verdammt. Schritte erklingen. Li-Wens Augen werden für einen Moment groß. Schnell drückt sie das Fenster zu und lässt sich auf die Bettkante sinken. Bemüht sich außerdem, den Puls herunterzufahren. Funken des Adrenalins schweben durch ihren Körper. Der Blick haftet an der Tür. Etwas knackt, anschließend knarrt das Holz. Sie zieht überrascht die Augenbrauen hoch. Mit ihm hat sie nicht wirklich gerechnet.
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Ein Atemzug entfernt I
Action"Menschenleben werden dem Geld untergeordnet." Li-Wen Chen, eine Frau, die sich dem deutschen Staat verpflichtet hat, wird auserwählt, um den angehenden Drogenhändler Kaden Larkin aus dem Verkehr zu ziehen. Der Hass steigt an, als sie in einer U-Ba...