III

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Die restlichen Kilometer sind zügig abgefahren. Li-Wen hätte niemals damit gerechnet, dass sie problemlos vorankämen. Auch als sie schließlich Wismar erreicht haben, hat Li-Wen sich auf Hürden oder gar Hindernisse eingestellt – nachts ist wohl weniger los. Sie ist etwas anderes gewöhnt. Es ist, als würde ich Äpfel mit Birnen vergleichen. Wismar ähnelt nicht ansatzweise Berlin. Hier ist es ruhig, im Vergleich zu einer richtigen Metropole. Gelegentlich ist sie auf einige Pannen gestoßen, die mitten auf der Autobahn geschehen sind. In der Ferne hat sie die Warnblinklichter erkannt. Leerer Tank oder eine dampfende Motorhaube; nur wenige Kilometer vor dem Ziel sind zwei PKW miteinander kollidiert. Bevor man überhaupt den Unfallort abgesichert hat, sind sie und Jakub rechtzeitig vorbeigefahren. Ich liebe diese Nähe zum Meer. Vielleicht könnte ich mich späterhin in einer Stadt niederlassen, die dieser Lage gerecht wird. Die Großstadt wird von viel Grünem umsäumt, die Vororte werden mit Einfamilienhäusern geschmückt. Li-Wen genießt die Ruhe, die in diesen Straßen herrscht. Die Poeler Straße führt über Bahnübergänge, schlängelt sich zu einem Industriegebiet, welches an der Altstadt grenzt. Vorwiegend rote Ziegeldächer. Die Mehrzahl der Häuser verkleidet sich mit Schatten, ab und zu streicht der sanfte Lichtkegel der Laternen über die Fassaden. Ihr kommen mehr Fahrzeuge entgegen, oft sind es LKWs, die ihre Ladung zu einem weit entfernten Ort transportieren.

Ihr Herz trommelt fest gegen den Brustkorb, je näher sie der Straße kommt. Wie wird Milosz wohl auf sie reagieren? Wohnt er überhaupt noch dort? Falls ja, nach wie vor allein oder gar mit einer Freundin oder Frau? Was hat Jakub gesagt? Er sei siebenundzwanzig? Sie weiß es nicht mehr.

Die letzte Kreuzung. Li-Wen legt die Hände fest um das Lenkrad, ehe sie den Blinker zu der rechten Seite ansetzt. Die Wartezeit kommt ihr viel zu lang vor. Bisher hat diese rote Farbe sie nie zur Weißglut getrieben. Bis auf heute. Komm' schon. Ich habe es etwas eilig. Hier will jemand seinen Bruder wiedersehen. Sie klopft mit den Fingerspitzen auf dem Material herum, der Fuß harrt ungeduldig über dem Gaspedal aus.

„Mann, komm' schon. Das kann doch nicht wahr sein. So eine Scheißampel. Hat die schon immer so lange gedauert? Das ist ja schlimmer als in Berlin. Meine Fresse. So viel dazu, Wis- ... Oh, na bitte. Es geht doch. Muss man sich zuerst ständig aufregen? Also echt." Keine zwei Sekunden sind vergangen, und Li-Wen saust um die Kurve. Jakub fährt dicht hinter ihrem Wagen. Fünfzig, Sechzig. Bei fünfundsechzig bleibt die Nadel. Sie kann es nicht sonderlich begreifen. Das Ziel ist zum Greifen kann. Vielleicht freut sie sich mehr als Jakub. Es liegt daran, dass sie einen Menschen nach all den Jahren glücklich gemacht hat. „Ach, scheiß' doch aufs Halteverbot. Da ist keine Ausfahrt, da ist nichts. Außerdem dauert's nicht lange. Und es ist dunkel. Da sieht mich niemand."

Li-Wen denkt nicht länger nach, zögert den Beschluss nicht mehr hinaus. Von der einen äußersten Spur steuert sie ihren Flitzer auf die andere, ohne dabei auf die anderen Fahrer zu achten. Jemand hupt laut und wird von Li-Wen ausgebremst. Jakub geht den Vorgang nachsichtiger an. Zwar manövriert er seinen Sportwagen geschickt über die breite Straße, doch im Vergleich zu Li-Wen kontrolliert er vorher, ob jemand hinter ihm ist.

„Ich habe eindeutig mehr Glück als Verstand." Eine Lücke, genau vor dem Beginn des absoluten Halteverbots. „Ich pass' in die Lücke. Aber was ist mit Jakub?" Sie peilt die freie Stelle an, drosselt das Tempo. Der Motor ächzt und stöhnt vor Anstrengung, während die junge Frau das Gefährt sorgsam in die Lücke dirigiert. Immer wieder prüft sie den vorhandenen Abstand. Die Aufregung und Vorfreude verbünden sich und übernehmen die Führung in ihrem Kopf. „Perfekt. Schief, aber ausreichend. Ich komm' 'raus, mein Vordermann sowieso. Passt also." Gleißendes Licht erfüllt den Innenraum; Jakub parkt den Porsche unmittelbar hinter ihrem. Sie blinzelt langsam, bevor sie den Motor abstellt, das Handy aus der Halterung nimmt und aussteigt. Per Knopfdruck wird das Auto verriegelt.

Ein Atemzug entfernt IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt