Fünf Uhr sechsunddreißig. Der Sekundenzeiger ist eben über die höchste Ziffer gehuscht. In weniger als einer halben Stunde würde der Wecker sich lauthals zu Wort melden. Li-Wen hat ihn vorher verstummen lassen. Seit dem jüngsten Morgen sitzt sie auf dem Bett, den Blick schweigend zu der Tür gerichtet. Mit jeder Sekunde, die vergangen ist, hat sie mit dem Knirschen des Schlosses gerechnet. Mit Jakub, der sich die Drogen beschafft hat. Irgendwann ist er tatsächlich gekommen. Li-Wen hat nach dem Wecker gegriffen und die Zahlen aufleuchten gelassen. Kurz nach halb fünf. Die junge Frau hat ihn in der Hand behalten, während sie den gedämpften Schritten lauscht, die sich zu dem Wohnzimmer begeben haben. Jakub hat nichts weiter gesagt, er ist zweifelsfrei still geblieben.
Li-Wen beschließt, sich aus dem Bett zu quälen. Der heutige Arbeitstag wird mächtig an ihren Nerven zerren und den Körper zu einem Wrack herunterwirtschaften. Sie zieht die Jalousien hoch, begrüßt den dämmernden Morgen mit einem lauten Gähnen. Das Fenster wird ein wenig geöffnet, und ein frischer Windzug schlüpft durch den Spalt. Die Wärme des gestrigen Abends geht in ihr unter. Li-Wen rückt die weiße Stoffgardine zurecht, ehe sie aus dem Schlafzimmer geht. Sie erwischt sich dabei, wie sie zu der angelehnten Tür späht. Die Finger tasten nach dem Lichtschalter. Gedimmtes Licht erfüllt den Flur.
Allmählich macht die Müdigkeit sich daran, ein wenig in den Hintergrund zu treten. Li-Wen streckt die Arme empor. In den Ohren hallen die knackenden Beschwerden der Knochen wider. Sie streicht die Haare aus ihrem Gesicht. Wie ein schwarzer, undurchsichtiger Schleier liegen sie auf dem Rücken.
Der Blick schwebt suchend durch den übersichtlichen Flur. Das Erste, das sie auf Anhieb wahrgenommen hat, sind die Schlüssel, die sich in der Messingschale befinden. Li-Wen schaut zu der Tür, anschließend zu dem Boden. Falten wölben sich über die Stirn, und sie nähert sich der verdächtigen Entdeckung. Dunkle Tropfen kleben auf dem hellen Laminat. Handelt es sich etwa um Blut? Li-Wen starrt Richtung Wohnzimmer. Auch dort diese merkwürdigen Punkte. Mechanisch tragen die Beine sie zu dem Zimmer. Ohne jegliche Hintergedanken geht sie hinein.
Eigentlich sollte dieses Bild sie ergreifen und lähmen. Sollte jegliche Sirenen zum Heulen bringen. Nichts geschieht. Es ist, als würde Li-Wen es mit einer kalten Resignation abklären. Diese Erkenntnis erschreckt sie etwas.
Ein Haufen zerknüllter Taschentücher liegt verstreut auf dem Tisch, etliche von ihnen rot gefärbt. Die Dose mit den Unheilbringern steht dort wieder. Nicht mehr leer, randvoll. Sie sieht Jakub an, der sich auf die linke Seite gedreht und einen Arm unter das Kopfkissen geschoben hat. Li-Wen macht kleine Schritte auf ihn zu und merkt, wie sie sich in seinen hypnotischen Bann ziehen lässt. Ein schier unendliches Angebot an diversen Fragen hat sich aufgetan. Was ist vergangene Nacht geschehen? Hat ihn jemand entdeckt? Hat man die örtlichen Behörden informiert? Ist eine unschuldige Person getötet worden? Die Tischkante bohrt sich in den oberen Teil der Waden. Li-Wen zuckt etwas zusammen und hält wieder inne. Jakub realisiert nichts, er schläft nach wie vor. Ihr ist bewusst, dass es seltsam aussehen mag, ihn während des Schlafens zu beobachten.
Würde ich erfahren, dass es jemand mit mir getan hätte, wäre ich durchgedreht. Sie lässt den ruhigen Blick über ihn schweifen. Na ja, jetzt, wo er hier so liegt, würde ich nicht unbedingt an der Tatsache festhalten, dass er etliche Male gegen die Gesetze verstoßen hat. Ein scheinbar friedlicher, junger Mann. Die Ruhe schwankt jedoch, als Li-Wen unweigerlich das getrocknete Blut sieht. Die Schnittwunde muss sich anscheinend erneut aufgetan haben. Verkrustete Ränder, jenes Rosa nun ein dunkles Rot, an einigen Stellen dem Schwarz ähnelnd. Du bist mir nachher eine Erklärung schuldig.
Jakub dreht sich auf den Rücken, und ein Arm baumelt von der Kante herab. Der Verband bedeckt den kleinen und den Ringfinger. Selbst in diesem Material haben sich einzelne rote Tropfen verfangen. Li-Wen hadert kurz mit sich, ehe sie beschließt, sich auf die Couch zu setzen. Vorsorglich hält sie einen bestimmten Abstand zwischen sich und ihm. Sie behält die Hände im Schoß und den Blick auf ihn. So wird das nichts. Solange du dich nachts nach draußen begibst, wird er Heilungsprozess nicht vorankommen. Du zögerst ihn mächtig heraus. Ich bin ernsthaft am Überlegen, ob du nicht länger als eine Woche hierbleiben sollst. Sie richtet sich gerade auf. Verdammt. Ich habe sein Handy vergessen. Sie linst zu dem Tisch. Das muss ich noch zurücklegen. Nicht, dass er Verdacht schöpft.
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Ein Atemzug entfernt I
Acción"Menschenleben werden dem Geld untergeordnet." Li-Wen Chen, eine Frau, die sich dem deutschen Staat verpflichtet hat, wird auserwählt, um den angehenden Drogenhändler Kaden Larkin aus dem Verkehr zu ziehen. Der Hass steigt an, als sie in einer U-Ba...