XI

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Fünf Stunden. Mehr nicht. Länger hat die Dunkelheit sie nicht behalten. Nach dieser Stundenanzahl hat sie Li-Wen grob von sich gestoßen. Missgelaunt und entgeistert hat sie die Augen geöffnet und die Decke angestarrt. Dass vor der Tür reges Treiben herrscht, verbessert nicht den momentanen Gemütszustand. Li-Wen hat das Gefühl, dass Steine in ihrem Körper lagern, die sie kaum bewegt bekommt. Ein tonloser Seufzer entrinnt ihrer Kehle, und sie richtet sich langsam auf. Hebt die Arme empor und streckt sich ausgiebig. An einigen Stellen knackt es. Ein weiterer Tag ist vergangen, und dennoch kann sie nicht zurück. Es würde unerwünschtes Aufsehen erregen. Wenigstens stoben keine Gedanken durch den Kopf.

Li-Wen schlägt die Decke beiseite und schiebt die Beine über die Bettkante. Ein Schauder überkommt sie, und Gänsehaut entsteht. Sie sieht zu den zwei Fenstern. Sie mögen geschlossen sein, jedoch ist es kalt hier drinnen. Die nackten Füße streichen über den Boden. Li-Wen erhebt sich aber nicht, sondern bleibt sitzen. Der Magen meldet sich knurrend zu Wort, und sie verzieht ein wenig den Mund. Sie kann sich nicht aus dem Zimmer begeben, immerhin trägt Li-Wen nichts anderes als Unterwäsche und ein T-Shirt. Auf anzügliche Gedanken kann sie herzlichst verzichten.

Der Blick tastet sich suchend durch das Zimmer. Sonnenlicht dringt durch das Glas und wirft helle Flecken auf Boden und an Wänden. Wie von allein ist sie aufgestanden und zu den Fenstern geschritten. Sieht hinaus und schaut sich den Anblick an. Viel gibt es nicht zu ekennen; hohes Mauerwerk links und rechts, verwitterte kleinere Häuser weiter vorne. Junge Bäume und Sträucher, die sich mutig ausgebreitet haben und mit Erfolg den Beton an einigen Stellen gesprengt haben. Vögel sausen zwischen den Häusern umher oder jagen dicht über den Boden. Abfälle hat hier jemand entsorgt. Mit Löchern durchsiebte Müllsäcke, von Rost ummantelte Rohre oder gar Stahlträger. Die ziegelroten Wände sind mit kunstvollen Graffito überzogen worden und glühen farbenfroh.

Li-Wen fragt sich, wie man aus dieser Umgebung kommt, bis ein schmaler, unauffälliger Weg ihre Aufmerksamkeit eingefangen hat. Dieser Weg schlängelt sich durch die Abfälle und knickt hinter einer verfallenen Lagerhalle ab. Ich könnte dennoch nicht von hier verschwinden. Die Fingerkuppen fahren langsam über den Fenstergriff. Ich halte mich in der zweiten Etage auf. Noch dazu trage ich keine sichere Kleidung. Li-Wen verpasst der aufkeimenden Frustration einen energischen Stoß, sodass sie in den Hintergrund stolpert. Sie atmet ruhig durch. Ich werde hier herauskommen, irgendwie. Das werde ich schaffen. Kreisartige Schlieren bleiben auf dem Glas zurück, als Li-Wen mit dem rechten Zeigefinger diese Formen beschreibt. Mein Team wartet auf mich. Ich darf es nicht im Stich lassen. Gedanken unternehmen eine Wanderung durch den Kopf und zerren Li-Wen mit sich, auch wenn sie sich dagegen sträubt. Sie versinkt zunehmend in der eigenen Welt und hat es beinahe geschafft, das Klopfen zu überhören. Noch ehe sie rechtzeitig reagieren kann oder sich gänzlich umdrehen kann, ist die Person in ihr Schlafquartier eingetreten.

„Soll ich dir von Kaden geben", erhebt er die selbstbewusste Stimme und wirft einen Stapel Kleidung auf das Bett. Li-Wen verschränkt die Arme vor der Brust und stöhnt innerlich auf, als der Junge den Blick über ihren Körper schweifen lässt. „Also ... 'n paar Klamotten sind von den beiden Mädels hier. Probier' sie einfach an." Er grinst sie keck an. „Du kannst auch so 'rumlaufen." Der Blonde zieht sich hastig in den Flur zurück, denn Li-Wen hat einen scharfen Laut von sich gegeben. „Kaden wartet unten auf dich." Mit diesen Worten schließt er die Tür und lässt Li-Wen in Frieden.

Was für ein Idiot, denkt sie zähneknirschend und seufzt genervt. Kaum trägt eine Frau spärliche Kleidung, müssen wieder die anzüglichen Gedanken den Denkprozess lahmlegen. Die junge Frau wirft einen argwöhnischen Blick auf die einfarbigen Stücke. Nun, denn. Lassen wir Kaden lieber nicht warten. Die rechte Hand bekommt das Oberteil zu fassen. Li-Wen faltet es auseinander und sieht es sich an. Ein Pullover ohne Aufdruck und Verzierungen. Sie wendet es um. Es scheint eng geschnitten zu sein. Li-Wen legt es zurück auf das Bett und schält sich das eigene Oberteil von dem Körper und wirft es beiseite.„Entweder ist es Zufall oder Kaden hat ein ziemlich gutes Auge für die Maße." Der Pullover sitzt wie angegossen. Nicht zu eng, aber auch nicht zu lose. Die Brüste werden betont, ihre schmale Taille ebenfalls. Li-Wen schiebt die Ärmel ein wenig hoch und krempelt den Kragen um. „Nicht schlecht." Sogar neue Unterwäsche befindet sich auf dem Stapel, wieder optimal. Li-Wen betrachtet den schwarzen BH, und Falten kräuseln sich über die Stirn. Woher weiß Kaden das? Gedanken werden beiseitegeschoben. Li-Wen wechselt die Unterwäsche. „Ich sollte am besten nicht darüber nachdenken." Der Stoff verursacht kein unangenehmes Jucken. Li-Wen greift nach der Hose. Sie schmeichelt den Beinen. Li-Wen wirft einen prüfenden Blick auf das Aussehen und posiert ein wenig, sodass sie das Gesäß zur Geltung bringt. „Ich glaube, dass es kein Zufall gewesen ist." Sie benötigt nicht einmal einen Gürtel. Die Hose schmiegt sich eng an den Unterkörper. Li-Wen lässt die eigenen Kleider auf dem Bett liegen und holt die Stiefel zu sich. Steckt die Füße in diese und bindet das Schuhwerk zu.

Ein Atemzug entfernt IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt