Der Junge

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Sie hört Geschrei.
Etwas fällt zu Boden und zerbricht.
Teures Porzellan auf Marmor Boden.
Schritte über die Scherben.
Knirschen.
Sie kennt das.
Es ist jeden Tag das gleiche.
Sie zieht die Decke über den Kopf und macht sich ganz klein, denkt so wäre sie sicher, flüchtet in ihre eigene Welt.
Dumpfe Geräusche.
Jemand fällt.
Scherben schlittern über den Boden.
Schreie.
Schmerz.
Erneut fällt etwas zu Boden.
Diesmal leiser, mit weniger Wucht, fast resignierend.
Dann Stille.
Plötzlich hört sie Schritte.
Dumpfe, schwere Schritte, die Treppe hinauf.
Schwerer Atem.
Sie hält die Luft an.
Ihre Tür wird aufgerissen.
Jemand stürmt ins Zimmer.
Ihr wird die Decke weggerissen.
Ihr Körper schwankt hin und her.
Er hält ihre Schultern fest, schüttelt sie durch, schreit sie an.
Doch sie bekommt nichts mit, schaut nur mit leerem Blick in seine Augen.
Wut, Furcht, Aggression vielleicht Angst.
Sie kann nicht genau sagen was es ist.
"Du wirst nichts sagen, hörst du (Y/n)", schreit er, "du wirst dein verdammtes Maul halten oder du bist die nächste!"

Meine (h/f) Haare fallen mir ins Gesicht.
Sie sind fettig.
Wann habe ich das letzte Mal geduscht?
Ich weiß es schon nicht mehr.
Ich habe Augenringe, die gefühlt bis zu meinen Knien gehen und ein viel zu großes, löchriges T-Shirt an.
Egal, ich muss den Schein wahren.
Mit Trockenshampoo, Deo und Make-Up mache ich mich zurecht und schlüpfe in meine Schuluniform.
Auf dem Weg nach draußen setze ich ein Lächeln auf.
Ein Lächeln kann viel verändern.
Es kann alle täuschen.
Wenn sie fragen ob ich glücklich bin lächel ich und nicke.
Das reicht.
Jeder glaubt es.
Am Schultor muss ich mich zusammenreißen.
Schein wahren.
Ich gehe in die Klasse, ignoriere die Blicke meiner Klassenkameraden und die Beleidigungen auf meinem Tisch und setze mich stumm hin.
Der Unterricht zieht an mir vorbei, ich beteilige mich nicht sondern starre nur aus dem Fenster.
Ich habe die Hoffnung längst aufgegeben jemals hier raus zu kommen.
Raus aus diesem dreckigen Leben.
Weg von meinem Vater, der nach der Arbeit seinen Stress an mir auslässt, aber nach außen auf perfekte Familie macht.
Aber eine Familie sind wir schon lange nicht mehr.
Früher haben meine Eltern viel gestritten und seit dem Tod meiner Mutter bin ich das Opfer meines Vaters.
Was hat das Leben eigentlich für einen Sinn?
Schlecht in der Schule, Mobbing und ein gewalttätiger Vater.
Aber für Selbstmord bin ich zu feige.

Es ist spät.
Nach der Schule war ich noch bei der Nachhilfe.
Wofür eigentlich?
Aus mir wird sowieso nie was werden...
Ich laufe durch die dunklen Gassen.
Unsere Wohnung liegt nicht gerade im reichsten Teil der Stadt.
Wenn ihrs genau wissen wollt, hier funktioniert zu 90% nicht mal die Straßenbeleuchtung.
Eine Lampe flackert noch schwach mit letzter Kraft.
Ich sehe auf zu dem kämpfenden, von Motten umflogenen, Licht in der Dunkelheit.
Da sehe ich ihn, einen Schatten, der sich mit raschen Schritten auf mich zu bewegt.
Und obwohl ich nichts zu verlieren habe bekomme ich Angst.
Mein Körper versteift sich.
Ich will mich ganz klein machen und mir die Decke über den Kopf ziehen, so wie früher.
Ehe ich weglaufen kann werde ich gepackt.
Mir wird etwas auf Mund und Nase gedrückt und ich werde ohnmächtig.

Als ich zu mir komme, liege ich auf dem Boden.
Meine Hände sind gefesselt und ich habe etwas im Mund, sodass ich nicht schreien kann.
Ich sehe mich um.
In mir regen sich keinerlei Gefühle, ich bin abgehärtet.
Plötzlich kommt ein Junge ins Zimmer.
Er sieht älter aus als ich, vielleicht zwei, drei Jahre.
Er hat wuschiges (h/f) Haar und wunderschöne, (a/f) Augen.
Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.
Er kommt zu mir und bindet mich los.
"Sei brav (Y/n). Lauf nicht weg und schrei nicht, sonst muss ich dich bestrafen und das wollen wir beide nicht."
Seine Augen sind ausdruckslos und er weicht meinem Blick aus, aber ich weiß dass er bloß Angst hat.
Angst geschnappt zu werden.
Ein Anfänger, vielleicht seine erste Entführung?
Ich sehe ihn gespannt an.
Zum ersten Mal passiert etwas in meinem Leben.
"Wenn du in diesem Haus bleibst und nicht in diesen Raum gehst", er deutet auf ein Zimmer hinter einer Schiebetür, "werde ich gut für dich sorgen und dir nichts tun."
Ich nicke.
Der Junge lächelt leicht.
"Ich bin bald wieder da", meint er, steht auf und verlässt das Haus.
Ich stehe ebenfalls auf und sehe mich in meiner neuen Umgebung um.
Das "Haus" besteht aus einem einzigen Raum.
Die Wände sind kahl, an einer Seite sind Schränke mit Futons, Nahrungsmitteln und Geschirr und in einer Ecke steht ein kleiner Computer auf einem uralten Tisch mit Stuhl.
Es gibt nur ein Fenster, was aber abgedunkelt ist.
Die einzige Lichtquelle ist eine kleine Glühbirne an der Decke.
Hinter einer Schiebetür befindet sich ein winziges Bad, in dessen Waschbecken sich Geschirr stapelt.
Sonst ist da nichts.
Außer dem geheimnisvollen Raum hinter der Schiebetür natürlich.
Es reizt mich aber nicht nachzusehen was dahinter ist.
Wahrscheinlich eh bloß die Pornosammlung des Jungen, die ihm peinlich ist.
Ein bisschen gelangweilt streife ich durch die Wohnung.
Wo der Junge wohl hin ist?
Ich gehe zur Tür und drücke die Klinke.
Offen.
Also wirklich ein totaler Anfänger.
Ich lächle und atme die frische Frühlingsluft ein.
Schön.
Erst jetzt fällt mir auf, dass es mittlerweile angefangen hat überall zu blühen.
Die Kirschbäume stehen in voller Blüte und der Wind trägt rosige Blütenblätter in die kleine Wohnung.
Wie schön das Leben sein kann.
Ich atme nochmal tief ein, dann schließe ich die Tür wieder.
Es reizt mich nicht abzuhauen.
Wo sollte ich auch hin?
Hier habe ich das erste Mal das Gefühl frei zu sein.
Ich bin ausgebrochen, ausgebrochen aus meinem tristen, grauen Alltag!

My Yandere *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt