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Wir sitzen beim Abendessen. Silvester ist nun schon zehn Tage her und noch immer habe ich nicht mit Jarn gesprochen. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, was ich denn zu ihm sagen soll, wenn ich ihn wiedersehe. Meine Familie unterhält sich darüber, welche Leistungskurse Aurelia ab nächstem Schuljahr belegen sollte, doch ich höre gar nicht richtig zu, bin in Gedanken bei ihm und male mir Szenarien aus, wie unser erstes Gespräch wohl ablaufen könnte.
Irgendwann scheint meine Mutter zu bemerken, dass ich wieder abwesend bin, denn sie legt sachte ihre Hand auf meine Faust, worauf ich kurz zusammenzucke. „Lukas, meinst du nicht, dass du langsam mal mit ihm sprechen solltest?", sieht sie mir ernst in die Augen.
„Was ist denn überhaupt passiert?", fragt mein Vater, der sich bisher zu Thema noch gar nicht geäußert hat. Tief seufze ich. „Jarn hat ein Geheimnis, von dem er mir an Silvester erzählt hat und... das hat mich ziemlich schockiert und wir haben uns gestritten. Dann ist er weggerannt und ich bin ihm nachgelaufen, habe ihn aber nicht finden können." Stur schaue ich auf meinen Teller, während ich antworte, damit ich ihnen nicht in die Gesichter sehen muss. Diesen Satz habe ich mir vorher schon zusammengereimt, falls meine Eltern mir diese Fragestellen würden. „Hat er AIDS? Dann solltest du nicht..."
„Nein, das ist es nicht. Ich kann euch nicht sagen, was es ist.", unterbreche ich ihn. „Aber gefährdet dich diese Sache irgendwie?", drückt meine Mutter meine Hand fester, „Ich will nicht, dass dir etwas passiert." Ich schüttle den Kopf. „Mir passiert schon nichts. Ich war nur so wütend, dass er mir das verheimlicht hat."
„Vielleicht solltest du mal mit ihm reden. Er hatte sicher seine Gründe.", meldet sich nun auch Aurelia zu Wort. Ich sehe ihr in die Augen und sofort überkommt mich das Gefühl, dass sie Bescheid weiß.

Später liege ich in meinem Bett und schaue mir für die Klausur morgen eine Doku über die Weimarer Republik an, als auf einmal mein Handy klingelt: Jarn.

Mein Herz pocht und ich weiß nicht, was ich tun soll, hebe jedoch mit zitternden Händen ab.
„Hi." Auch meine Stimme zittert. „Hey.", klingt er genauso unsicher wie ich, „Ich wollte fragen, ob wir mal reden wollen."
„Soll ich zu dir kommen?"
„Wenn du das möchtest." Ich habe schon fast vergessen, wie rau seine Stimme eigentlich klingt. „Ja, das möchte ich."
„Dann bis gleich.", antwortet er unsicher. „Bis gleich." Schnell lege ich auf, bevor ich es mir noch anders überlege.

Rasch ziehe ich einen Pulli, meine Jacke und Schuhe an, stecke den Geldbeutel in die Hosentasche, ziehe eine Wollmütze über und Handschuhe in die Jackentaschen.
„Ich fahr noch zu Jarn.", teile ich meinen Eltern mit, die im Wohnzimmer Tatort schauen. „Wirklich? Hast du nicht morgen eine Klausur?", fragt meine Mutter verdutzt. „Doch, das bekomm ich schon hin." Besorgt blickt sie zu meinem Vater, doch er grummelt nur: „Na geh schon."
Auf der Treppe rutsche ich fast aus, als ich sie hinunter stolpere und schnell merke ich auch, dass es die falsche Idee gewesen war, mit dem Fahrrad zu fahren. Es ist unfassbar kalt und bis zu Jarn dauert es eine Ewigkeit. Meine Brille beschlägt von meinem angestrengten Atem, doch ich trete weiter heftig in die Pedale.

Das Treppenhaus der Sozialwohnungen ist wie gewöhnlich heruntergekommen. Ich musste unten nicht klingeln, denn die Haustür stand sperrangelweit offen. Schweratmend stehe ich nun vor der Wohnungstür, weiß nicht ob ich klopfen oder klingeln soll. Vielleicht sollte ich auch einfach wieder umdrehen und nach Hause fahren,  jedoch fasse ich mir dann doch noch ein Herz und schlage sachte meine Fast gegen das Holz.
Jarn sieht fast schon erschrocken aus, als er mich direkt vor seiner Türschwelle stehen sieht. Auch mein Herz bleibt für eine Sekunde stehen. Er sieht noch fertiger aus als sonst. Die Haare hängen ihm im Gesicht und seine Augen sind geschwollen, voller Augenringe. Er schluckt schwer und schaut zu mir hinauf. Keiner von uns beiden weiß so recht, was er tun soll. Ein Kuss wäre unangebracht, eine Umarmung vielleicht merkwürdig. „Darf ich reinkommen?", frage ich schließlich vorsichtig. „Klar."
Ich folge ihm benommen in die Wohnung und setze mich auf das Sofa. Er hat auf einem Hocker Platz genommen, den ich noch gar nicht kenne. „Ist der neu?", frage ich.
„Ja, den hab' ich am Straßenrand gefunden."
Wir schweigen uns an, starren beide auf unsere Füße. „Du wolltest doch reden, möchtest du dann nicht etwas sagen?", sehe ich ihn an, wie er dort zusammengekauert auf diesem Hocker sitzt. Er seufzt tief und scheint mit sich zu hadern. „Es tut mir leid, dass ich dir nichts davon erzählt habe und es tut mir leid, dass ich unser Erstes Mal runtergemacht habe und es tut mir auch leid, dass ich dich vor deinen Freunden blamiert habe."
„Ach das ist mir doch wirklich egal. Die meisten von denen wussten ja nicht einmal, wie ich heiße."
„Trotzdem tut es mir leid.", fängt er plötzlich an zu schluchzen. Es kommt so schnell,dass es mich überrollt.
„Das war so scheiße von mir. Ich hab' mich auch nicht gemeldet, weil es mir so peinlich war, dass ich wirklich geglaubt habe, ich könnte das alles hinter mir lassen. Ich dachte einfach, dass ich das nicht erwähnen muss, da es ja jetzt vorbei ist und du das vielleicht nie rausfinden würdest. Das war so dämlich von mir." Nun weint er wirklich. „Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich wollte damit abschließen und hab gehofft, dass das nie Thema werden würde. Nie hab' ich überlegt, wie es dir dabei gehen würde. Ich dachte einfach nicht, dass Sex für dich so ein großes Thema sein würde, weil es für mich einfach..." Er beendet den Satz nicht. „Aber auch das war dumm, denn Sex spielt schließlich bei jedem in dem Alter eine große Rolle und ich Idiot hab' dir nichts davon erzählt. Ich war dein Erster und ich hätte wissen müssen, dass es dich verletzen würde."
Er kann nicht weitersprechen, weint zu sehr, kippt fast vom Stuhl. Auch mir laufen die Tränen die Wange hinunter. Schnell stehe ich auf und nehme ihn in die Arme, vergesse all die Wut, die ich auf ihn habe, doch er versucht sich wegzudrücken. „Lass das. Ich bin nicht gut genug für dich. Ich hab' dir nur wehgetan."
„Ich bin nicht zu gut für dich.", drücke ich ihn fester an mich, „Auch ich hab' dich verletzt. Du hast schreckliche Dinge durchmachen müssen und ich war nicht für dich da, weil ich nur an mich gedacht hab."
Zitternd lässt er sich in meine Arme fallen, zieht mich nun auch näher an sich, krallt sich panisch in meinen Rücken. Weinend und Arm in Arm sitzen wir auf dem Zimmerboden. „Ich hab' einfach so Angst, dass ich wieder in die Situation komme.", schluchzt er in meine Schulter. „Ich weiß."


Endlich ein neues Kapitel! :) Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber Abistress und Schreibblockade sind keine gute Mischung.

Jedoch habe ich eine Frage: Findet ihr, ich schreibe zu hektisch? Ich hab nämlich manchmal das Gefühl... ^^'

My homeless Romeo [BoyxBoy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt