Es dauert eine Weile, bis wir uns beide wieder beruhigen können und trotzdem habe ich das Gefühl, dass mir eine riesige Last von den Schultern fällt. Langsam richtet Jarn sich wieder auf, entfernt sich von mir, hebt seinen Kopf und wischt sich über das verweinte Gesicht. „Ich kann verstehen, falls du jetzt nichts mehr mit mir zutun haben willst.", sagt er leise. Seine Stimme klingt dabei ganz kratzig. „Das will ich doch überhaupt nicht. Ich will mit dir zusammen sein.", antworte ich, lächle dabei ganz sachte. „Trotz allem?"
„Ja, trotz allem." Nun lächelt auch er ein wenig. „Es darf nur keine Geheimnisse mehr geben."
„Okay.", anwortet er sachte, fast flüsternd.
Und so sitzen wir auf dem Teppichboden, beide verweint und trotzdem auch irgendwie glücklich. „Und mir tut es leid, dass ich dich so wegen der Sache verurteilt habe. Du hast das ja schließlich nicht so gewollt.", sehe ich ihn ernst an. „Schon gut, wahrscheinlich hätte jeder so reagiert."
Er sieht so klein und hilflos aus, wie er sich zusammenkauert, weswegen ich ihn wieder in die Arme nehme. Es tut gut, seine Wärme und seinen Atem zu spüren und ganz sachte, so vorsichtig wie noch nie, küsse ich erst seine Schulter, dann seinen Nacken, das Kinn und schließlich den Mund. Jarn drückt sich näher an mich heran, setzt sich auf meinen Schoß und jeder von uns bemerkt sofort, wie erleichtert doch der andere jeweils ist.
„Ich liebe dich so sehr.", flüstert er. „Ich dich auch."
„Kannst du heute Nacht hierbleiben?" Kurz muss ich an meine Mutter denken, die mich sicher steinigen wird, falls ich die Klausur morgen verpassen sollte. „Ja,ich kann bleiben.", antworte ich.In dieser Nacht schlafe ich besser, als in denen zuvor. Trotzdem wache ich einige Male auf. Jarn träumt tief und fest, schnarcht ein wenig und drückt sich an meine Brust. In seiner rechten Hand hält er sich am Bändel meines Hoodies fest. Normalerweise schlafe ich oberkörperfrei, doch durch die kaputte Heizung in Jarns Wohnung, ist das heute keine Option gewesen. Zwar bin ich glücklich darüber, dass er und ich nicht mehr streiten, jedoch bin ich auch unsicher, weiß nicht, wie das alles nun weitergehen soll. Sicher werden meine Eltern bald mehr über den mysteriösen Freund ihres Sohnes wissen wollen und ich habe wirklich überhaupt keine Ahnung, wie sie auf die komplette Geschichte reagieren würden.
Als ich aufwache überkommt mich ein leichter Schauer. Schnell schalte ich meinen Wecker aus, ziehe mir die Decke bis ans Kinn und bemerke, dass Jarn nicht mehr neben mir liegt. Der Lärm der Müllabfuhr dringt in die Wohnung. Irgendwo muss ein Fenster offenstehen. „Ich hab' dir Tee gemacht!", ruft Jarn aus der Küche. Müde lege ich mir die Wolldecke über die Schultern und schlürfe durch die Wohnung. Jarn sitzt dort am offenen Fenster und raucht. Anscheinend ist ihm nicht so kalt wie mir. „Warum bist du denn schon wach?", gähne ich und setzte mich ihm gegenüber. „Das Nikotin ruft."
Nickend nippe ich an meinem Tee. „Ich muss leider schon gleich los. Ich schreibe heute Geschichte und muss vorher noch nach Hause."
„Oder du bleibst noch ein bisschen hier und gehst einfach direkt zur Schule. Ich kann dir einen Toast mit fake Nutella machen."
„Klingt zwar verlockend, aber ich muss noch meine Schulsachen holen."
Was dann passiert, kommt irgendwie unerwartet. Jarn legt die Zigarette zur Seite, steht auf und setzt sich rittlings auf meinen Schoß. Die Decke lasse ich über meine Schultern gleiten. „Du wirst dir doch wohl bei jemanden einen Stift ausleihen können." Er küsst mich nur ganz leicht, zieht danach seinen Kopf wieder zurück. „Ich hab' dich doch gerade erst wiederbekommen. Da sollst du nicht gleich wieder abhauen." Nun küsst er mich stärker und ich ziehe ihn näher an mich heran. „Vielleicht hast du ja recht." Ich weiß ganz genau, dass das hier eine dumme Idee ist, doch es ist mir auch herzlichst egal. „Ich kann direkt zur Schule gehen." Es scheint, als würde Jarn einen Moment überlegen, doch dann küsst er mich wieder sachte. „Wann bist du heute fertig?", fragt er und legt seine Stirn an meine. „Halb vier, wieso?"
„Ich hol' dich ab. Ich will den Nachmittag mit dir verbringen und der perfekte Freund sein, den du verdienst.", grinst er breit. „Ach ja?"
„Und da ist noch was,", wird er auf einmal ernster, „Ich möchte deinen Eltern die Wahrheit erzählen, die komplette Wahrheit über mich. Ich... Ich will, dass sie wissen, mit wem ihr Sohn zusammen ist. Ich will mich nicht weiter verstecken müssen."
„Das ist zwar sehr nobel von dir, aber hältst du das wirklich für eine gute Idee?"
„Ja."
Ich weiß zwar nicht, ob das zutrifft, trotzdem nicke ich.Viel zu lange habe ich getrödelt. Wie erwartet muss ich von Jarn aus direkt zur Schule fahren, schaffe es nicht mehr nach Hause und bereue es schon, dass ich gestern Abend das Fahrrad genommen habe. Noch immer ist es viel zu kalt, um sich mehr als nötig draußen aufzuhalten.
Zehn Minuten zu spät stolpere ich in den Physikunterricht und setze mich auf meinen üblichen Platz. Leider ist Nicole nicht im selben Kurs. Ich kann ihr also nicht von den gestrigen Ereignissen erzählen.
Ohne Block, Stift oder jeglichen Utensilien sitze ich also in der Stunde und grüble über das nach, was Jarn gesagt hat und darüber, wie meine Eltern wohl auf seine Geschichte reagieren werden. Schließlich kenne ich nicht einmal alle Einzelheiten. Plötzlich tippt mir jemand von hinten an die Schulter, es ist Max, ein guter Freund von Jakob. Ganz sicher hat er auch mitbekommen, was auf der Party passiert ist. Er hält mir Papier und Kulli hin. „Du solltest wenigstens so tun, als würdest du mitschreiben. Sonst drückt dir die Schäfer wieder vier Punkte mündlich rein."
„Du weißt noch meine Note?", frage ich erstaunt. „Vier Punkte sieht man schließlich nicht alle Tage.", antwortet er und kratzt sich dabei nervös am Hinterkopf. Dankend nehme ich das Papier entgegen und beginne geistesabwesend den Tafelaufschrieb abzuschreiben.
Nach der Stunde fällt mir wieder ein, dass ich keine Tasche dabei habe. Schnell mache ich ein Foto und werfe das DIN A4 in den Papierkorb.„Kann ich mir ein paar Blätter von dir leihen?", frage ich Nicole in der großen Pause vor der Klausur. Max' Stift habe ich ausversehen eingesteckt. Alle sind dabei ihre Tische zurechtzurücken und noch schnell panisch Daten der Putsche, Pakte und Reichstagswahlen auf ihre Hand oder in den Ausschnitt zu schreiben.
„Wo sind denn deine Sachen?", sieht mich Nic verwundert an, während sie Papier von ihrem Block abtrennt. „Lange Geschichte. Ich muss dir nach der Klausur was erzählen." Wenn ich ihr es jetzt berichten würde, hätte ich den Kopf viel zu voll mit Gedanken. „Sag doch, was ist?", drängt sie mich und zieht die Brauen zusammen. „Später.", ermahne ich sie im genau richtigen Moment, als unser Lehrer zur Tür hereinkommt.
Ich weiß, es kam seit gefühlten Jahrzehnten kein Kapitel mehr. Das lag daran, dass ich sehr lange verreist war. Wahrscheinlich liest die Geschichte eh keiner mehr ^^'.
Auf jeden Fall bin ich jetzt wieder in Deutschland und versuche regelmäßiger über Lukas und Jarn zu schreiben. Auf der Reise habe ich auch schon ein bisschen vorgeschrieben.
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My homeless Romeo [BoyxBoy]
Roman pour Adolescents"Vielleicht stehst du dir einfach selbst im Weg.", flüstere ich leise, worauf er kurz lachen muss. "Aus dir kann noch was werden. Du musst nur an dich glauben." "Sagst du das zu jedem komischen Penner, den du küsst?", lächelt er verschmitzt. "Nur zu...