Kapitel 1

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Ausgerechnet heute kam ich zu spät. Wild fluchend hetzte ich mich aus meinem Bett und regte mich über mich und mein Glück auf, als ich einen Blick auf die Zeiger meiner Wanduhr warf.

Es war bereits kurz vor neun Uhr in der Früh und ich würde es niemals mehr noch pünktlich bis zum Schulgebäude schaffen. Den Erwartungen entgegen war es nicht wie in all den High School Filmen mein erster Schultag – nein, so dramatisch auch wieder nicht. Zu meinem Bedauern war es der letzte Schultag als Junior, sprich der letzte Tag der elften Klasse.

Trotz dieser Tatsache schlüpfte ich rasch in das gestrige Outfit und eilte herüber zum Bad, um mich etwas frisch zu machen. Keine Sekunde später schnellte ich in die Küche und griff nach dem Apfel in der Obstschale, vernachlässigte dabei nahezu den pinken Zettel, auf dem in schwarzer, schnörkeliger Schrift »Hab dich lieb :)« geschrieben stand und sich ein Lächeln auf mein Gesicht stahl.

Moms kleine Geste stopfte ich mir mit dem Apfel zusammen in meinen Rucksack, warf mir kaum einen Wimpernschlag später die Tasche auch schon über die Schulter und verschwendete die letzten Sekunden für einen kurzen Blick in den Spiegel im Flur: Meine Haare sahen in Ordnung aus, ich hatte mir fix die vorderen Haarsträhnen mit ein paar Haarklammern an meinem Hinterkopf festgesteckt. Mein Make-up ... zugegeben, sah schon mal besser aus, doch dafür war keine Zeit mehr, denn ich wollte nicht noch später an meiner Schule aufkreuzen, als ich es sowieso schon tun würde. Ich griff nach den Schlüsseln auf der Kommode, während ich verzweifelt meine weißen Sneaker zuband und gleichzeitig ziemlich kompliziert zwei Hefte und mein Mäppchen unter meinen Arm klemmte.

Ich hätte gestern mein Buch definitiv nicht bis zu dem Moment lesen sollen, bei dem die Protagonistin erfuhr, dass sich all ihre Wünsche und Träume niemals bewahrheiteten und dass ihr gesamtes Leben aus einem Strick aus Lügen bestand, was ihr ihre Familie und ihre Freunde ihr Leben lang vorenthielten. Das musste fürchterlich für sie gewesen sein und ich versank Seite für Seite immer tiefer in dem Roman, bis ich realisierte, dass es bereits nach zwei Uhr in der Nacht war und ich mich schon längst hätte schlafen legen sollen.

Du bist so was von zu spät, war der Gedanke, der pausenlos in meinem Kopf spukte und mich nicht mehr in Frieden ließ, da es mittlerweile zwei Minuten vor neun war. Drei Mal durftet ihr raten, wer in zwei Minuten Unterrichtsbeginn hatte und noch mindestens zehn Minuten bis zum Schulgebäude brauchte.

Seufzend verließ ich das Haus und zog die Haustür mit viel Schwung hinter mir zu, während ich mit schnellen Schritten zur Schule hetzte. Tage wie heute begegneten mir natürlich nur, wenn meine Eltern und meine Schwester ausnahmsweise Mal früher das Haus verließen. Meine Eltern waren beide berufstätig und meine Schwester war noch in der Middle School. Ihr Unterricht begann um acht Uhr dreißig - eigentlich genau wie meiner, doch am letzten Schultag gab es für die Schülerinnen und Schüler der elften und zwölften Klassen eine andere, besondere Regelung, was den Unterrichtsbeginn anging.

Fragt mich bitte nicht warum.

Es ergab auch für mich absolut keinen Sinn.

Mit der Stufe über mir hatte ich noch nie besonders viel zu tun. Hier und da hatte ich den einen oder anderen Namen mal gehört, aber mehr auch nicht. Die waren mir alle immer relativ gleichgültig und hatten mich nie sonderlich interessiert. Aber die Mädchen in meiner Stufe - wie konnte es nicht anders sein -, waren da ganz anderer Meinung. Sie fuhren total auf die angesagtesten und attraktivsten Jungs aus der zwölften Klasse ab. Bei diesem Gedanken blieb mir nichts anderes übrig, als den Kopf zu schütteln. Was brachte es ihnen denn überhaupt, wenn sich keiner von denen wirklich ernsthaft für sie interessierte? Wenn sie erst am College sind, war doch sowieso wieder alles vorbei.

Da heute der Abschlusstag der zwölften Klassen war, würden mit Sicherheit Tonnen von Tränen fließen, um den traurigen Abschied der Seniors würdig verabschieden zu können.

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