Kapitel 27

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Kapitel 27

„Chris...lass sie los! Wir müssen verschwinden!", flehte Max ihn an. Er rüttelte an Christophers Schulter, bekam jedoch nur sein Knurren als Antwort.

Das Tosen um sie herum wurde immer stärker. Die meisten Wandler waren bereits zurückgewichen. Sie hatten keine Chance gegen die Übermacht der Alp aus dem Tor. Sie hatten verloren.

„Ich lasse sie nicht hier!"

Christopher hatte Miray in seine Jacke gewickelt. Er wollte nicht, dass sie bei dem Sturm fror.

Gregor hatte sich vor seinen Sohn gehockt.

„Christopher, sieh mich an!", befahl er ihm. Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Er hatte schon immer eine große Autorität gehabt, jetzt lebte er sie jedoch auch aus.

Zögerlich hob Christopher das Gesicht und sah seinem Vater in die Augen. Dessen Hand hatte sich auf seine Schulter gelegt und drückte leicht zu. Eine unterstützende, sorgsame und väterliche Geste. Sie half nicht im Geringsten.

„Halt sie gut fest und lass sie nicht los."

Christopher nickte nur. Gregor winkte die restlichen Wandler zu sich heran. Sie alle versammelten sich um Christopher, bildeten einen schützenden Kreis. Hände wurden gehalten und formen eine undurchdringbare Mauer. Ein dutzend Augen leuchtete gleichzeitig auf. Es entstand ein starker Sog über ihnen, der sie alle mit sich riss, kurz bevor die Brücke von einem Alp zerstört wurde und in die gähnende Leere des Abgrunds darunter stürzte.

Sie landeten sanft auf dem weichen Teppich des Anwesens. Christopher hielt sie noch immer fest. Die Wandler stoben auseinander und hechteten zu ihren Angehörigen und den Verletzten. Abermals mussten Menschen versorgt werden.

Max wusste, dass er zu den anderen gehen sollte. Er, mit seinen Fähigkeiten, würde vielen helfen können. Doch er konnte seine Augen nicht von dem leblosen Körper wenden. Ganz vorsichtig legten sich seine Fingerspitzen auf ihre nackten Beine. Er suchte nach einem Lebenszeichen ihres Geistes. Irgendetwas, das von ihr übrig geblieben war. Er fand nichts.

Der sonst so fröhliche, positive junge Mann stand auf und verließ die Szene. Er konnte die tote Gestalt nicht länger betrachten. Ebenso wenig hielt er den Druck in seinem Bauch aus, der ihn dazu zwang zu weinen.

Gregor blieb bei seinem Sohn. Er hatte zuvor Befehle weitergegeben. Diese Welt musste um jeden Preis weiterhin beschützt werden. Doch in diesem Moment konnte er sich seiner Verantwortung entziehen, musste es. So saß er stumm neben Christopher.

Malik wollte ebenso für seinen Freund da sein, doch der Tod von Miray hatte auch ihm zugesetzt. Er hatte sie nicht beschützen können, wie er es vorhatte. Er hatte absolut versagt. Je länger er in ihrer Nähe war, desto stärker wurde das Gefühl, versagt zu haben. Es tat ihm beinahe körperlich weh. Daher kümmerte er sich lieber darum die Bänder aufrecht zu erhalten, die die Realität schützten.

Es verging fast eine halbe Stunde, ehe sich Christopher wieder regte. Er hatte nicht mehr mit ihr sprechen können. Er wollte ihr so vieles gesagt haben. Er wollte sie retten. Ihr Held sein. Er wollte ihr zeigen, dass auch sie schwach sein dürfte; dass auch sie ein Recht hatte, sich auf andere zu verlassen.

Vorsichtig schlang er einen Arm unter ihre Beine und stand auf. Seine Arme fühlten sich taub an, trotzdem drückten sie den schlanken Körper fest an seine Brust. Ohne ein weiteres Wort stieg er die Treppen hinauf und lief geradewegs in sein Zimmer, wo er Miray auf sein Bett legte. Sanft deckte er sie zu und strich ihr noch einmal vorsichtig über die eiskalte Wange.

„Er wird sterben."

Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Die Trauer schnürte seinen Brustkorb zu und hielt ihn beinahe vom Atmen ab. Doch er konnte jetzt nicht nachgeben. Später, wenn der Kampf gewonnen oder eventuell verloren war, durfte er sich erlauben zusammenzubrechen. Jetzt musste er kämpfen und sie rächen.

Wanderer - Dreamcatcher ✔ WattyWinner 2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt