Kapitel 26
Miray war unendlich müde. Sie wollte nur noch schlafen. Dennoch wusste sie, dass sie sich das nicht erlauben konnte. Ein seltsames Gefühl der Schwerelosigkeit lag auf ihrem Körper. Als sie die Augen öffnete, fand sie sich alleine vor. Um sie herum ein wildes Gewaber von Farben, Düften, Geräuschen. Sie hörte Vogelgezwitscher, das Rauschen des Meeres, wildes Prasseln von Regen. Sie roch frisch gebackene Brötchen, Kuchen, Braten. Sie sah Blau, das sich um Gelb windete. Grün, das mit Orange einen Fluss erzeugte. Rot, das mit Rosa Blüten malte. Es war friedlich. Am liebsten wäre sie für immer an diesem Ort geblieben. Jedoch holten sie die Erinnerungen nur allzu schnell wieder ein.
„Christopher?", rief sie vorsichtig. Ihre Stimme wurde fortgetragen von einer lauen Sommerbrise. Es folgte ein Hauch als Antwort.
„Wo bist du?", vernahm sie seine Stimme.
Sofort sah sie sich um. Sie konnte keine Gebäude, Gänge oder gar Formen ausmachen. Christopher war ebenfalls nicht zu sehen.
„Hier...", flüsterte sie und wartete ab. Abermals antwortete ihr ein feiner Hauch.
„Ich sehe dich nicht..."
Miray seufzte auf und ging vorsichtig ein paar Schritte in Richtung Blau. Sie berührte es. Ihre Fingerspitze wurde augenblicklich angenehm gekühlt. Sie berührte das Gelb. Ihre Fingerspitze wurde warm.
Wieder sah sie sich um. Die Welt um sie herum bewegte sich, langsam aber stetig. Irgendwie musste sie es schaffen diese Welt zu beeinflussen. Sie musste ihn finden, bevor Dominic es tat.
„Shit...!", vernahm sie plötzlich seine Stimme. Er klang aufgeregt.
„Was ist los?", flüsterte sie in den Wind hinein.
„Ich bin da." Dominics Stimme schnitt eiskalt durch die Farben. Die Welt um sie herum erzitterte kurz, die Farben verloren für einen Moment ihre Intensität. Ihr Herz schmerzte.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie wollte zu Christopher. Jetzt, auf der Stelle. Er war auch hier, das wusste sie. Irgendwo in diesem Wirrwarr aus Sinneseindrücken musste er versteckt sein.
Sie stellte sich sein Gesicht vor. Die dunklen Haare, die sein markantes und gleichzeitig weiches Gesicht perfekt umrahmten. Die sturmfarbenen Augen, die sie erzittern ließen. Der schwungvolle Mund. Die breiten, beschützenden Schultern. Wieder erzitterte die Welt. Ihr Herzschlag setzte kurzzeitig aus.
Als sie die Augen wieder öffnete, konnte sie ihn sehen. Zwischen dem Blau und dem Gelb hatte sich ein Fenster geöffnet. Christopher stand Dominic gegenüber. Sie wollte sofort hindurch springen, wurde jedoch wie von einer unsichtbaren Wand zurückgeschleudert. Sie schrie nach ihm, er schüttelte jedoch nur den Kopf.
„Ich kann dich nicht sehen..."
Miray begann zu verzweifeln. Sie wusste nicht, wie sie zu ihm kommen sollte. Und während sie sich noch Gedanken darüber machte, musste sie mitansehen, wie Dominic auf Christopher los ging.
Die beiden standen sich auf einer langen, weißen Brücke gegenüber. Unter ihnen klaffte ein tiefschwarzer Abgrund. Der Himmel war in ein helles Gelb getaucht. Wind peitschte ihnen um die Ohren.
Sie schlugen aufeinander ein. Immer wieder versuchten sie auszuweichen, immer wieder trafen sie sich. Miray blieb nichts anderes übrig, als ihnen dabei zuzusehen. Immer wieder wurde ihre Farbwelt erschüttert. Ihr Herz zerriss beinahe, während um sie herum alles langsam ergraute.
„Dominic hör auf!", flehte sie ihn an, während sie zu Boden sank und eine Hand an ihrer Brust verkrampft hielt.
„Er wird uns nie in Ruhe lassen. Er muss endlich sterben", kam es von Dominic, der sich grinsend etwas Blut von den Lippen wischte.
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Wanderer - Dreamcatcher ✔ WattyWinner 2019
FantasiaWatty Awards Winner 2019 in der Kategorie Fantasy. Christopher war wutentbrannt. Doch das schnelle Zusammensacken des Körpers vor sich ließ ihn innehalten und seinen Angriff abbrechen. War er etwa zu weit gegangen? Er ließ Miray los und beobachtete...