Es dauerte lange bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
Ich quälte mich aus den restlichen Schichten meiner Kleidung und versuchte mein Haar zu entwirren, bevor ich mich unter die Dusche stellte.
Wieder einmal ließ ich den Wasserstrahl heiß auf mich hernieder regnen, während ich einfach da saß und versuchte an nichts zu denken.
Nicht an Kale. Nicht an Peeta. Nicht an meinen vielleicht verfrühten Tod.
Irgendwann funktionierte es jedoch nicht mehr und ich stieg frustriert aus der Dusche.
Schnell trocknete ich mich ab und suchte in den tiefen meines Schrankes nach etwas langen und bequemen.
Ab morgen würde mein Leben unbequem werden, also wollte ich diesen Luxus noch ein letztes mal genießen.
Ich wurde sogar fündig.
Eine schwarze, weit fallende Stoffhose und ein roter, dünner langärmliger Pullover waren das Ergebnis meiner Suche. Schnell zog ich sie über und bändigte meine roten, noch feuchten, Haare in einen lockeren, geflochtenen Zopf.
Fertig angezogen stand ich nun in meinem Zimmer und wusste nicht was ich tun sollte.
Schlafen wäre wahrscheinlich eine gute Idee gewesen aber dafür war ich zu aufgewühlt. Lesen würde auch nicht funktionieren.
Seufzend schaute ich aus meinem Panoramafenster, welches die erleuchtete Stadt zeigte und ich wusste wo ich hinwollte.
Das Dach.
Ich war in der Zeit, in der ich hier war, noch nicht da oben gewesen aber ich hatte einmal Tansy und Valerian darüber reden hören. Die Aussicht sollte Atemberaubend sein und auf einmal schien jede Sorge ganz klein.
Da meine Sorgen mich gerade zu erdrücken schienen, war dies wohl der beste Ort für mich.
Leise schlich ich zu meiner Tür und öffnete sie vorsichtig. Unten war nichts weiter zu hören, als der Fernseher, also ging ich auf den Gang raus.
Das Bild hatte sich nicht wirklich verändert. Im Fernseher liefen immer noch die Interviews. Anscheinend war ich gar nicht so lange mit meinem Zusammenbruch beschäftigt gewesen, wie ich gedacht hatte.
Zu dem Mädchen aus Distrikt Drei, hatte sie nur der kleine Junge aus Distrikt vier gesellt. Die anderen schienen alle noch unten zu sein und die anderen Interviews zu verfolgen.
Auf dem Bildschirm sah ich gerade wieder das Gesicht wie er über einen Witz von Canola lachte. Die Menschen aus dem Kapitol stimmten mit ein und mir wurde fast schlecht bei dem Geräusch.
Angewidert wand ich mich ab und ging zur Treppe, die weiter nach oben führte.
Die beiden anderen Tribute bemerkten mich nicht einmal. Keine guten Überlebenschancen in der Arena.
Mir war es egal. Zwei weniger um die ich mir Sorgen machen musste.
Irgendwo in meinem Inneren wollte etwas über diesen Gedanken erschaudern, aber es war, als hätte ich vorhin all meine Emotionen heraus geweint. Jetzt war ich einfach nur noch eine leere Hülle.
Oben angekommen, stieß ich die Tür auf und stand auf einer großen freien Fläche um die am Rand nur ein halbhohe Mauer war, auf die man sich setzen konnte, wenn man schwindelfrei war.
Etwas weiter hinten standen zwei Friedenswächter, die sich leise unterhielten. Wahrscheinlich sollten sie aufpassen, dass sie hier oben niemand prügelte und gegenseitig umbrachte.
Ich blieb erst einmal stehen wo ich war und genoss die frische Luft hier oben. Die beiden Wächter beachteten mich nicht einmal.
Geräusche kamen nur gedämpft hier hoch und ich fand es herrlich. Endlich wieder etwas Ruhe für mich.
Oder auch nicht, schoss es mir durch den Kopf, als ich weiter vorne eine kleine Gestalt an der Mauer stehen sah.
Mir war es wohl nicht gegönnt einmal Ruhe zuhaben.
Ich wollte mich schon wieder abwenden und nach unten gehen, als die Gestalt sich mit tränenverhangenen Augen umdrehte.
"Jonny?", fragte ich leicht verwirrt. Er war also auch schon wieder oben. In seinen bunten Anzug, der anscheinend alle Pastellfarben enthielt die ich jemals gesehen hatte, sah er einfach lächerlich aus. Ich hatte Tansy nur kurz in ihrem bodenlangen Kleid gesehen. Es hatte zwar auch alle möglichen Farben gehabt und man konnte es nicht anders als bunt bezeichnen, aber das Mädchen hatte etwas an sich um trotzdem elegant und schön darin zu wirken. Während Jonny in seinen Anzug aussah, als hätte er ihn von seinen großen Bruder geborgt.
Mit hängenden Schultern und verquollenen Augen sah er zu mir.
"Willst du dich auch über mich lustig machen?", stellte er mir eine Gegenfrage.
"Warum sollte ich?", fragte ich verwirrt.
"Warum solltest du.", wiederholte er meine Worte, und lachte bitter auf. "Vielleicht weil ich mich wiedermal zum Idioten gemacht habe?"
"Beim Interview?", fragte ich noch einmal und er schaute mich verwirrt an.
"Hast du es nicht gesehen."
"Nein.", antwortete ich ehrlich, bevor ich fortfuhr. "Ich war in meinem Zimmer... duschen."
Erst jetzt schien er meine Aufmachung zu sehen und lächelte wieder traurig. "Dann hast du wohl die Lachnummer des Jahres verpasst."
"was ist passiert?" Ich war mir sicher, dass er nicht antworten würde, doch nach einem kurzen Seufzer begann er: "Wo soll ich anfangen. Vielleicht dabei, das ich auf die Bühne gestolpert bin und der Länge nach hingefallen bin, oder das ich vor Aufregung einen Schluckauf gehabt hatte? Nein warte, ich weiß was besseres. Der Moment als ich von der Bühne gerannt bin, weil ich mich übergeben musste. Ich glaube, dass war der beste Moment für alle. Zumindest haben da alle am lautesten gelacht."
Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Das klang wirklich schrecklich und ein einfaches "Tut mir Leid", würde ihn wahrscheinlich nur wütend machen, weil er denken würde, das ich es nicht ernst meinte.
Als mein Schweigen länger wurde, schaute er mich, über die Distanz zwischen uns, an. Seine Augen wirkten auf einmal so viel älter, als die eines 15 jährigen.
"Du lachst ja gar nicht.", stellte er fest.
"Warum sollte ich? Es hört sich schlimm an und ich kann mir nicht einmal vorstellen wie du dich dabei gefühlt haben musst."
Sein Blick ruhte weiter auf mir und irgendetwas darin gefiel mir nicht.
"Du bist anders als die anderen 06-01-17.", stellte er ruhig fest. "Klug, nett, hübsch.", bei den Worten wurde er leicht rot, doch er fuhr fort: "Ich wünschte ich hätte jemanden wie dich eher kennen gelernt. Nicht so kurz vor meinem Tod."
"Sag das nicht!", ermahnte ich ihn und wieder lachte er auf.
"Warum nicht? Es ist doch die Wahrheit.", erklärte er und drehte sich wieder in Richtung Stadt, wodurch ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. "Ich hatte gehofft, höchstens hier, noch ein paar gute Tage zuhaben, weißt du? Einmal dazugehören. Schließlich teilen wir alle das gleiche Schicksal. Aber bis auf dich, hat nicht einmal jemand versucht, mich kennenzulernen. Alle lachten immer nur, genau wie in meinem Distrikt. Und morgen geht es in die Arena.", er schwieg eine Weile bevor er leise sagte: "Ich will nicht in die Arena."
"Jonny, ich...", fing ich an, doch er unterbrach mich: "Nein Sage. Du verstehst nicht. Ich hab dich im Training beobachtet, genau wie alle anderen. Egal was die Spielmacher sagen, ich weiß das du gut bist. Du kannst durchkommen, besonders mit Bamboo an deiner Seite. Dieser Riese scheint dich wirklich zu mögen. Vielleicht nicht so sehr wie Canola aber er wird auch versuchen dich zu beschützen, wenn er kann. Aber ich? Ich werde morgen in dieser Arena stehen und von irgendjemanden umgebracht werden. Ich bin nicht blind. Vetch und seine Leute überlegen doch schon wer mich umbringen darf." Er drehte seinen Kopf zu mir und Tränen liefen aus seinen Augen. "Ich will so nicht sterben. Höchstens das will ich selber entscheiden in meinem Leben."
Ich verstand nicht was er damit meinte, schaute ihn nur verwirrt an. Da lächelte er und sagte sanft: "Ich hoffe du gewinnst."
Erst dann begriff ich. Verstand was er vorhatte.
Auch wenn ich wusste, dass ich nicht rechtzeitig kommen würde, schrie ich kurz auf und rannte los.
Es war, als würde die Welt nur noch in Zeitlupe verlaufen. Jeden Schritt den ich Jonny näher kam, sah ich wie er auf die Mauer kletterte und mich noch einmal anschaute.
Er sprang, als ich bei ihm ankam. Meine Hand folgte ihm, griff nach ihm und erwischte nur noch Luft.
Entsetzt starrte ich ihm hinterher, wie er fiel, bevor mich kräftige Arme zurückzogen und so verhinderten, dass ich den Aufprall sah. Aber ich hörte ihn. Ein Geräusch, welches ich nie vergessen werde.
Geschockt merkte ich, dass der Mann, der mich festhielt, irgendetwas brüllte. Ich verstand es nicht, aber es war auch nicht an mich gerichtet, sondern an den anderen Friedenswächter, der gerade über die Mauer schaute.
Mein Schrei musste die beiden alarmiert haben, aber auch sie waren zu spät gekommen. Fluchend beugte sich der Wächter an der Mauer zurück, drückte einen Knopf den ich nicht sah und sprach: "Wir haben einen weiteren toten Tribut.", er wartete kurz bevor er sagte, "Nein Sir, keine Einwirkung eines anderen. Er ist vom Dach gesprungen."
Es dauerte nicht lange, bis ich die vertrauten Gesichter der Spielmacher sah. Diese wiederum schauten mich wütend an.
"Was macht sie hier?", fragte einer von ihnen den Friedenswächter, der mich immer noch festhielt.
"Sie hatte mit dem Jungen gesprochen, bevor er gesprungen ist, Sir.", erwiderte dieser.
"Hast du etwa davon gewusst?" Einer der Spielmacher kam so nah auf mich zu, dass ich mich beherrschen musste nicht zurück zu weichen, da er unangenehm süß roch. Ich konnte nur den Kopf schütteln, was den Mann vor mir nur ein Seufzen entlockte. Gott sei Dank lehnte er sich daraufhin zurück und murmelte: "Verdammt nochmal. Das darf doch nicht war sein. Lasst euch etwas einfallen, damit das nächstes Jahr nicht mehr passiert! Und ihr zwei!", wandte er sich an die beiden Friedenswächter , "Sorgt dafür, dass alle Tribute sofort in ihren Betten verschwinden! Die Interviews sind vorbei und ich will keine weiteren Vorfälle! Habt ihr das Verstanden? Wenn morgen nicht zumindest die verbliebenen 21 Tribute in der Arena erscheinen, mache ich euch zwei dafür verantwortlich." Auch wenn die Gesichter der beiden Wächter, um einige Nuancen weißer wurden, nickte sie gehorsam. Derjenige von den beiden, der mich sowieso schon festhielt, übernahm die Aufgabe mich auf mein Zimmer zurück zu bringen. Ich sah noch, wie gerade alle anderen Tribute wieder zurück gebracht wurden, bevor ich in meinem Zimmer eingesperrt war und wieder allein war.
Langsam ließ der Schock nach und Schuldgefühle machten sich breit. Hätte ich nur eine Sekunde schneller reagiert, hätte ich ihn noch erwischt gehabt. Und dann? Selbst der dünne Junge, hatte gut Zwanzig Kilo mehr gewogen als ich. Wahrscheinlich hätte ich mir dabei nur den Arm ausgerenkt oder wäre, im schlimmsten Fall, mit ihm abgestürzt.
Ich legte mich in meinen Sachen ins Bett. An schlafen war nicht zu denken. Immer wieder ging ich das Szenario durch und immer wieder überlegte ich, ob ich die Worte, die der Wind noch zu mir getragen haben, wirklich gehört hatte oder mir nur eingebildet hatte.
"Es tut mir Leid, Sage."
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Sage Snowdrop | Die ersten Hungerspiele
FanfictionMein Name ist Sage Snowdrop. Lange, bevor die Rebellion began wurde ich aus Distrikt 13, nach Distrikt 6 gebracht. Nachdem die Rebellion gescheitert ist werden mein Zwillingsbruder und ich, als die ersten Tribute für unseren Distrikt ausgewählt....