Sage Snowdrop | Kapitel 22

706 71 0
                                    

Als die Plattform sich anfing zu bewegen, schlug mein Herz immer schneller.
Ich hatte Angst.
Was wenn ich gleich sterben würde? Wenn ich einfach in die Arme von Vetch laufen würde und er mit einen unheimlichen Lächeln auf seinen Lippen, mich einfach töten würde?
Ich versuchte nicht darüber nachzudenken.
Mir war klar, dass ich da draußen vielleicht ein paar Sponsor hatte, die allein von der Punktzahl verwirrt sein könnten. Wenn ich nun auch noch mit panischem Blick vor den Kameras erscheinen würde, war mir bewusst, dass sie sich ziemlich schnell umentschieden würden und einen anderen Tribut sponsern würden.
Deswegen versuchte ich, meine geballten Fäuste und meine Gesichtszüge zu entspannen. 
Nur aufs wesentliche konzentrieren.
Als ich endlich ins Freie kam, blendete mich kurz die Sonne, bevor ich etwas war nehmen konnte.
Man hatte uns erklärt, dass wir auf den Plattformen stehen bleiben sollten, bis ein Signalton, nach 60 Sekunden ertönte.
Ich nutze die Zeit um mich umzusehen. Wir standen in einen großen Kreis, um ein goldenes Füllhorn, indem Taschen und Waffen gelagert waren. Um das Horn herum, lagen ebenfalls Dinge, die ich nicht alle zu ordnen konnte. Doch da war auch ein Bogen. Nicht weit von der Öffnung entfernt. 
Wenn ich Überlebenschancen haben wollte, würde ich genau diese Waffe brauchen.
Ich schaute nach links und sah den Jungen aus Distrikt 12 neben mir. Er war vielleicht größer als ich, aber nicht schneller. Mein Kopf wand sich nach rechts und ich konnte mir gerade so ein Lächeln verkneifen als ich in dunkle Augen sah.
Bamboo.
Er war genau neben mir. Besser hätten wir es nicht treffen können. Kurz und unauffällig nickte er mir zu, bevor auch er seinen Blick analytisch weiter gleiten ließ. Ich tat es ihm nach, fand aber niemanden der anderen Mädchen. Sie schienen vom Füllhorn verdeckt zu sein, genau wie mein Bruder.
Ein leichter Stich durchzog mein Herz, da ich zumindest gehofft hatte, ihn noch einmal hier sehen zu dürfen. Wahrscheinlich war es jedoch besser. Ich wollte nicht sehen wie er getötet wurde oder, noch schlimmer, in ihn rennen, damit er mich tötete.
Mir gegenüber lag ein Wald. Am Anfang war er noch leicht passierbar, aber es schien als würde er weiter hinten sich fast dschungelartig verdichten. Rechts von mir war ein Feld mit hohen Gras. Jemand wie Bamboo würde ohne Probleme darüber hinwegsehen können, aber für mich war dies kein guter Ort. Das Gras würde mich komplett verschlingen. Ich würde keinen Meter schauen können, geschweige denn wissen, wenn etwas auf mich zu kam. Also nahm ich mir vor, diesen Teil der Arena so gut es ging zu meiden.
Links von mir stieg der Wald stark an und wurde weniger, bis keine Bäume mehr standen, sonder nur noch Geröll zu sehen war. Weiter hinten, verlief eine regelrechte Bergkette, die auch hinter den Wald und Grasfeld weiter verlief. Sie schien die Arena zu begrenzen.
Ein kurzer Blick nach hinten, zeigte mir einen See, mit dunklen blauen Wasser. Er schien tief und ich hatte ein ungutes Gefühl bei ihm. Irgendetwas gefiel mir nicht an ihm.
Ich drehte mich wieder um und fokussierte meinen Blick auf den Bogen.
Wann waren diese Sechzig Sekunden endlich vorbei?
Links neben mir nahm ich eine Bewegung war. Neugierig, was der Junge aus Distrikt 12 vorhatte, blickte ich zu ihm und sah wie er die mittleren drei Finger, seiner linken Hand, erst an die Lippen führte und dann nach vorne ausstreckte.
Ich kannte dieses Zeichen, hatte schon davon gehört. Im Zwölften Distrikt von Panem war dies ein Zeichen für jemanden den man mochte. 
Eine Geste die Dank und Bewunderung ausdrückte, Abschied von einem geliebten Menschen.
Ein kleines Zeichen, welches viel Bedeutete. Er zeigte es zu den anderen Tributen, bewies damit, dass wir noch Menschen waren, auch wenn das Kapitol uns zu Figuren machen wollte, auf die sie wetten konnten.
Es war mehr ein Reflex, als ich seine Geste nachmachte, und ebenfalls, erst mit den drei Fingern meine Lippen berührte und dann die Hand ausstreckte.
Der Junge, Hemlock war sein Name, schenkte mir ein dankbares Lächeln.
Dann geschah etwas, was ich nie erwartet hätte.
Bamboo und das Mädchen, was neben Hemlock stand, machten die Geste ebenfalls, fast gleichzeitig nach und nach und nach, gingen alle linken Hände nach oben. Ich sah ein paar Tribute nicht, die vom Füllhorn verdeckt waren, aber ich wusste, dass auch sie das Zeichen machten.
Wahrscheinlich ging gerade ein Aufschrei durch das ganze Kapitol. Vielleicht hatten wir ja sogar das Glück, das der Präsident einen Herzinfarkt bekam. Was auch immer jetzt geschehen würde, wir hatten uns verabschiedet. Bewiesen, dass wir uns nicht haben verändern lassen. Ein letztes Zeichen an unsere Distrikte, bevor 20 von uns sterben würden.
In dem Moment, in dem unsere Hände fast synchron nach unten gingen ertönte das Signal. Es schien, als würde für eine Sekunde, die Welt still stehen. Ich wurde auf einmal ganz ruhig. Dachte nicht nach, ließ meinen Körper reagieren wie er wollte.
Als ich den ersten Schritt machte, ging die Zeit fast explosiv für mich weiter. 
Ich spürte Bamboos nähe regelrecht neben mir, als wir beide auf das Füllhorn zuliefen.
Wir waren noch nicht einmal annähernd in der Nähe des Bogens, als ich einen hohen kindlichen Schrei hörte.
Canola.
Bamboos und mein Blick trafen sich und ich sah die innere Zerrissenheit, in seinem. Er wollte dem kleinen Mädchen helfen, mich aber auch nicht verlieren.
Ich nahm ihm die Entscheidung ab, in dem ich nach einem hölzernen Knüppel vor mir griff und sie ihm in die Hand drückte.
Kurz schaute er mich verwirrt an und ich brüllte ihn fast wütend an: "Geh schon."
Immer noch bewegte er sich nicht. "Wir finden dich.", versprach er mir, bevor er sich endlich in Bewegung setzte und in die Richtung verschwand, aus der der Schrei kam.
Nun war ich allein, doch niemand schien mich zu beachten. Mein Blick huschte zu meinem Bogen, den in diesem Moment, das Mädchen aus Distrikt Sieben, im laufen, an sich nahm. 
Verdammt.
Ich brauchte ihn, war mein einziger Gedanke und so setzte ich ihr nach.
Mein Weg kreuzte sich mit einem toten Körper am Boden, das Messer steckte noch in seiner Brust. Ich reagierte wie eine Maschine. Emotionslos, berechnend. Ich brauchte den Bogen. Um an den Bogen zu kommen, brauchte ich eine Waffe, um gegen das Mädchen anzukommen.
Also riss ich das Messer, im darüber springen, aus dem Körper heraus und war froh, dass es keine Widerhaken oder sonstiges hatte. Es war eine längliche, dünne Klinge. Perfekt ausbalanciert.
Ein Wurfmesser. Besser als nichts.
Nur nebenbei realisierte ich, dass der Tote der gerade mal 12 jährige Junge aus Distrikt Vier war. 
Ich verschwendete einen Gedanken daran, ob es hoffentlich schnell für ihn gegangen war, bevor ich mich wieder auf meine Verfolgung konzentrierte.
Meine Aufmerksamkeit wurde aber ein weiteres mal unterbrochen, als ich eine vertraute Stimme gequält den Namen von dem Mädchen aus Distrikt Acht schreien hörte. Während meine Beine noch abbremsten, fuhr mein Kopf schon herum, um Valerian zu finden.
Schnell fand ich sie. Kauernd saß sie mit tränen überströmten Gesicht, vor einen leblosen Körper. Immer wieder schüttelte sie ihn und schrie dabei Tansys Namen.
Für einen kurzen Augenblick stand ich einfach nur geschockt da. Es durfte nicht sein, dass das junge, lebensfrohe Mädchen, welches zu Valerians engster Vertrauten hier geworden war, bereits schon tot war.
Immer noch auf meine Verbündete starrend, sah ich wie das Mädchen aus Distrikt Eins, Sylver, mit einem bösartigen Lächeln auf Valerian zukam, die nur Augen für Tansy hatte. Den Griff ihres Schwertes fest gepackt und mit Mordlust in ihren Augen, hatte sie sich das kleine Mädchen, als nächstes Opfer ausgesucht.
Mein Blick flog wieder zu dem Mädchen aus Distrikt 7, die gerade bei den wenigen Bäumen, auf den Geröllberg angekommen war und diesen flink nach oben kletterte. 
Noch würde ich sie einholen können. Mein Leben hing davon ab.
Wieder hörte ich Valerian schluchzen und ich gab auf. Mit meinem Gewissen würde ich es nie vereinbaren können, wenn ich das Mädchen hier zurück lassen würde.
Also wirbelte ich wieder herum und sprintete in ihrer Richtung. Als ich näher an ihre ran war, schrie ich ihren Namen um die Aufmerksamkeit, des Distrikt Eins Mädchen, auf mich zu ziehen. Es funktionierte. Beide schauten zu mir.
Weiter hatte ich jedoch meinen Plan nicht ausgearbeitet... Wieder improvisierte ich; ließ meinen Körper entscheiden, was das beste wäre. Meine Hand, die das Wurfmesser hielt, schoss nach oben und holte so viel Schwung wie ging. Im richtigen Moment ließ ich das Messer los und hoffte nur, dass ich nicht Valerian treffen würde. Ich war nicht wirklich gut mit Wurfwaffen. Diese dann auch noch im sprinten zu werfen, war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen.
Doch ich hatte Glück.
Sylver war noch so verwirrt von meinem Anblick, dass sie zu spät reagierte. Sie warf sich zwar zur Seite, aber das Messer streifte ihr Gesicht und sie blieb stöhnend am Boden liegen.
Schnell überbrückte ich die letzten Meter zu meiner Verbündeten und kam neben ihr zum stehen. Der Körper war wirklich der von Tansy. Mit offenen, leeren Augen, starrte sie Richtung Himmel. Ihr Oberkörper von einem Schwert gespalten.
Ich versuchte mich von dem Anblick los zu reißen und mich um das noch lebende Mädchen zu kümmern.
"Valerian steh auf.", redete ich auf sie ein, doch sie reagierte nicht. Immer noch bat sie Tansy wieder auf zu stehen.
"Verdammt Valerian, sie ist tot!", brüllte ich das Mädchen barsch an und versuchte dabei nicht selber in Tränen auszubrechen, "Sie steht nicht wieder auf!" Ich zog an ihrem Arm und endlich gab sie, immer noch weinend, nach und stellte sich auf ihre Füße. Erst jetzt sah ich das sie einen Rucksack umklammert hielt. 
Auch wenn ich meine Waffe verloren hatte, würden wir also nicht ganz leer ausgehen.
Ich schaute kurz zu Sylver die sich langsam fluchend wieder aufrichtete.
"Valerian schau mich an!", verlangte ich von dem Mädchen und sie reagierte fast roboterhaft. "Willst du das sie umsonst gestorben ist, mmh?" Sie schüttelte nur apathisch den Kopf, was mich dazu brachte sie zu packen. "Dann reiß dich jetzt endlich zusammen und fang an zu laufen!"
Endlich schien sie zu erwachen. Ihr Blick huschte noch einmal zu Tansy, bevor sie, endlich, los rannte.
Ich folgte ihr auf dem Fuß. Gott sei Dank war meine kleine Gefährtin eine unglaublich gute Läuferin und eine noch schnellere Sprinterin, wodurch wir bald beim Waldrand ankamen und tiefer hinein liefen.
Erst als wir weit genug weg waren, blieb ich stehen und schaute zurück. Man hörte nichts mehr vom Füllhorn. Ich wusste nicht wo Bamboo war, oder ob er es überhaupt noch zu Canola geschafft hatte.
"Sie ist wirklich tot, oder?", holte mich Valerians zittrige Stimme wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich schaute sie an. Sie tat mir Leid. Ängstlich und verstört stand sie vor mir. Tränen liefen ununterbrochen über ihre Wangen. Ich spürte wie auch mir die Tränen in die Augen schossen aber ich musste versuchen stark zu sein. Für uns beide.
"Ja, Kleines.", erklärte ich leise. Bevor ich reagieren konnte, hatte sie sich auch schon an mich geworfen und weinte bitterlich. "Ich will nachhause", wiederholte sie immer wieder und ich konnte nichts weiter tun, außer sie halten. Ich sagte nichts, denn wir wussten beide, jedes beruhigende Wort wäre eine Lüge.
Nachdem die Hungerspiele begonnen hatten, wussten wir beide, wir würden nie wieder nachhause gehen.

Sage Snowdrop | Die ersten Hungerspiele Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt