Sage Snowdrop | Kapitel 35

1K 91 21
                                    

63 Jahre später

Ich wusste nicht wie lange ich hier nun schon in der Sonne saß und meine Geschichte erzählt hatte. Als ich endlich zu ende gesprochen hatte, war ich erleichtert und gleichzeitig verängstigt. Bis auf Peeta hatte nie jemand die Wahrheit gekannt aber ich hatte das Gefühl, dass der Junge es verdient hatte. Er hatte schon zu viel durchmachen müsse. Zu viel verloren. Genau wie ich damals. Nur das er niemanden mehr hatte, der ihn aus seinen Alpträumen riss und ihn danach hielt. Ich war der Meinung, dass er es also zumindest verdient hatte zu wissen, dass er nicht alleine war.
Nervös spielte ich mit meinen Lederarmband, welches ich immer noch um mein Armgelenk trug, nur das die Haut darum nun grau und alt war. 
Nach den Spielen war mein Leben gut gewesen. 
Am Anfang war es schwer sich im Distrikt und unseren neuen Leben einzufügen. Verständlicherweise waren die Menschen im Distrikt unschlüssig was sie von den neuen halten sollten, besonders da wir, im Gegensatz zu ihnen, alle helle Haut, blonde Haare und helle Augen hatten. 
Peeta und ich kämpften dazu noch mit den Geistern unserer Vergangenheit, von denen niemand etwas wissen durfte. Aber nach einer Weile hatten wir uns eingelebt. Peeta hatte eine Bäckerei eröffnet und ich half ihm von Anfang an mit. Schnell wurde ich gut darin. Ich versuchte immer, alles so gut wie möglich zu machen und so meine Schuld etwas abzuzahlen. Wir bekamen sogare einen Sohn, den wir Kale tauften. Heute war er verheiratet und hatte drei wundervolle Söhne. Nur seine Frau war nicht das, was ich ihn gewünscht hatte. Er hatte immer ein anderes Mädchen geliebt. Ich mochte sie. Sie war ein nettes Mädchen aber sie hatte sich am Ende für einen anderen entschieden und mittlerweile ebenfalls zwei wunderschöne Töchter. Auch wenn ich mir wünschte, dass mein Sohn, dass gleiche Glück teilen würde, gönnte ich es ihr. Sie hatte sich für die Liebe und gegen das etwas bessere Leben entschieden. Ribes hatte sein versprechen eingehalten. Es war nicht so, dass wir reich waren aber immerhin mussten wir nicht befürchten zu verhungern. Die Arbeit war hart und auch wir aßen nur Reste, auch wenn die meisten aus dem Distrikt uns dies nicht glaubten, aber wir mussten niemals befürchten, dass wir verhungern würden, wie andere. Aber ich hatte mich immer ein bisschen leer gefühlt. Als Peeta dann auch noch zu früh starb, hatte ich das Gefühl in meinen Leben etwas falsch gemacht zu haben. 
Jahr für Jahr wurden wieder die Spiele veranstaltet. Jahr für Jahr starben Kinder. In dem Jahr der 50sten Spiele wurde mir Peeta genommen und dieser Junge hier gegeben.
Nervös schaute ich ihn an.
Haymitch ließ sein Kopf hängen und verarbeitete, dass gehörte. Seine Haare waren etwas zu lang, wodurch sie seine Augen verdeckten und ich nicht sehen konnte, wie er reagieren würde.
Gefühlte Stunden später hob er seinen Kopf und schüttelte seine Haare aus dem Gesicht. Danach räusperte er sich und legte den Kopf zurück an die Wand seines Hauses im Gewinnerviertel. Seit Muron gestorben war, mit ihm der einzige Gewinner, den Distrikt Zwölf jemals gehabt hatte, lebte er alleine in diesem Viertel. Man sah ihn nur zur alljährlichen Ernte, wo er die Rolle als Mentor der Tribute einnehmen musste.
Niemand traute sich zu ihm, außer mir. Seit seinen Spielen kam ich zu ihm. Seit seine Familie und seine Freundin bei einen Unfall gestorben waren. Einen Unfall, den der Präsident angeordnet hatte, nur weil Haymitch versucht hatte zu überleben und dabei etwas tat, was gegen die Regeln war.
Aber niemand verstieß gegen die Regeln. Das hatten wir beide auf die harte Tour lernen müssen.
"Danke", flüsterte er auf einmal so leise, das ich es kaum noch hören konnte. 
"Gern geschehen", gab ich zurück und schaute hinunter auf den Distrikt. "Ich dachte, du hättest es verdient zu wissen." 
Eine Weile schwiegen wir uns an und er nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Er kämpfte mit Alkohol gegen seine Dämonen an. Ich konnte es ihm nicht verübeln.
"Hör mir zu Haymitch, ich bin nicht mehr die Jüngste..."
"Geht das schon wieder los Camille", lachte er mich aus aber ich hörte die Angst, die er versuchte damit zu unterdrücken.
"Haymitch bitte.", Er schwieg und ich versuchte es noch einmal. "Versprich mir, dass wenn einer meiner Enkel jemals in den Spielen ist, dass du dich um ihn kümmerst." 
"Du meinst ich soll ihm vor dem Mädchen bevorzugen?", fragte er sarkastisch.
"Nein, ich sage nur, dass du für ihn da sein sollst.", erklärte ich ruhig.
Wie als Antwort hörte ich Kinderlachen den Berg heraufkommen. Nur einer in meiner Familie hatte dieses sanfte Lachen ,welches mich so an meinen Ehemann erinnerte.
"Wenn wir von deinen Enkeln reden, reden wir eigentlich nur über Peeta, oder?" Ich schaute Haymitch an. Der Junge war einfach zu schlau. Ich seufzte. Das Kapitol wusste immer über alles bescheid und ich wusste, dass sie es mir irgendwann vielleicht noch einmal heimzahlen wollten. Meinen Sohn hatten sie mir nicht genommen. Ich war eine gute Mutter gewesen und liebte meinen Sohn, aber ich konnte nie eine tiefe Bindung zu ihn eingehen, wie andere Eltern dies vielleicht zu ihren Kindern hatten. Immer saß die Angst, vor dem Kapitol in meinem Nacken. Erst für meinen jüngsten Enkel, der meinen Mann so ähnlich war, fühlte ich diese Verbindung und ich hatte Angst, dass dies irgendwann sein Schicksal besiegeln würde. 
"Du kennst sie, sie werden sich rechen, also versprich es mir einfach, bitte.", versuchte ich deshalb noch einmal zu Haymitch durchzudringen. Er drehte seinen Kopf zu mir und schaute mich schief an: "Ich werd auf ihn aufpassen, versprochen. Und jetzt fang den Kleinen ab, bevor er hier ankommt. Ich hab schon genug Kopfschmerzen." Knurrend stand er auf, als Peetas piepsige Stimme wieder zu hören war. Haymitch half mir auf und gab mir einen sanften Kuss auf den Scheitel. In den 13 Jahren, in denen wir uns nun näher standen, war er für mich, zu einem zweiten Sohn geworden. Ein Sohn, der mich besser verstand, als mein leiblicher. Auch wenn dieser nichts dafür konnte. 
So gut es meine alten Knochen noch mitmachten, lief ich meinem jüngsten Enkelsohn entgegen, der mit seinen gerade einmal fünf Jahren, gerade frisch in die Schule gekommen war. 
Gerade eben starrte er jedoch, auf eine Familie die etwas weiter weg nachhause ging.
Ich erkannte die junge Mutter, als das Mädchen, welches mein Sohn geliebt hatte und wahrscheinlich immer noch liebte. Lächelnd strich ich Peeta über seinen Kopf, als er plötzlich stolz sagte: "Sie werd ich mal heiraten!"
Erst verstand ich nicht was er meinte, doch dann sah ich das kleine Mädchen mit den zwei Zöpfen, welches an der Hand seinen Vaters ging und eifrig mit ihm diskutierte. Ich sah das gleiche Feuer in ihren Augen, welches einmal in meinen war und ich erinnerte mich an Claytons Worte: "Sie können dir alles nehmen, aber nicht dein Feuer." 
Lange hatte ich gedacht, dass er damit falsch lag. Am Ende hatten sie es mir doch genommen. 
Ich schaute auf meinen Enkel der mit seinen blauen Augen und seinen blonden Haar wie ein lebendig gewordener Engel aussah und nach meiner Hand griff. Gemeinsam gingen wir zurück in die Stadt, doch nicht ohne das ich noch einmal an das kleine Mädchen dachte. 
Vielleicht hatte ich das Feuer nicht verloren, sondern einfach nur weitergegeben an ein Mädchen, welches den Kampf bestehen würde.


ENDE

Sage Snowdrop | Die ersten Hungerspiele Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt