Sage Snowdrop | Kapitel 15

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Die Nacht über schlief ich wieder nicht gut. Immer wieder mischten sich Brandgeruch, verbranntes Fleisch, mit Schreien. Als dann auch noch Valerian und andere anfingen vor meinen Augen zu verbrennen, kämpfte ich mich regelrecht aus meinen Traum und zwang mich wach zu bleiben.
Jetzt, in der früh, fühlte ich mich deswegen einfach nur schlecht. Auch eine warme Dusche half nicht wirklichund so konnte mir wohl jeder ansehen, wie ich mich fühlte, als ich nach unten kam. Viel später als gestern, waren mittlerweile fast alle anderen schon da und frühstückten. Ich brauchte nur einen Blick auf das essen werfen und mir wurde schlecht.
Mit wahrscheinlich grünen Gesicht ließ ich mich auf das riesige Sofa fallen, schloss die Augen und versuchte gleichmäßig ein und aus zu atmen.
Erst als ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden, zwang ich mich mein linkes Auge zu öffnen. Neben mir saß Canola und starrte mich an. Sie hielt mir eine Tasse vor die Nase. Als ich nur eine Augenbraue als Antwort hob, erklärte sie: "Trink das, es wird dir helfen. Meine Mama hat uns den Tee immer früher gemacht wenn wir krank waren. Mein Bruder hat mir einen Beutel mit Blättern mitgegeben für die Arena."
Ich setzte mich auf und schaute das junge Mädchen an.
"Danke.", flüsterte ich und meinte es auch so. Sie teilte mit mir ihren Vorteil in der Arena, obwohl sie mich kaum kannte. 
Langsam nahm ich einen schlug und bereitete mich auf einen ekligen Geschmack vor, wie von der Medizin in unseren Distrikt. Aber der Effekt blieb aus. Im Gegenteil. Es schmeckte süß. Ich spürte regelrecht wie es warm durch meine Speiseröhre in meinen Magen lief und dort ein angenehmes Gefühl hinterließ. Dankbar seufzte ich auf und nahm noch einen Schluck, während Canola neben mir glücklich kicherte. Nach dem Tee, reichte sie mir ein Stück Brot, welches ich nun auch, ohne Übelkeit, verspeisen konnte.
Zumindest fühlte ich mich bereit genug dafür mich hinzustellen, als unsere Trainerin uns holte.
Wie ich den Tag überleben sollte, wusste ich nicht aber immerhin war das schon einmal eine gute Übung für die Arena. Schließlich würde mich dort niemand fragen, ob ich gut geschlafen hatte oder mir von all meinen Gedanken, wie ich sterben könnte, schon ganz schlecht war.
Trotzdem hielt ich mich zurück. Während die anderen, nach den noch gestern vorhanden Anlaufschwierigkeiten, mit einander kämpften, während Trainer ihnen aus ihren gemütlichen Sesseln Anweisungen zu brüllten, hielt ich mich lieber bei ruhigeren Sachen auf. Ich beschloss meine neu erworbene Kenntnis über Pflanzen, Kräuter und Beeren, bei dem Trainer dafür zu testen, der sichtlich erfreut darüber war, dass auch mal jemand zu ihm kam.
Der Mann tat mir fast leid, aber ich verstand auch alle anderen. Was würde schon schlimmeres in der Arena auf uns zukommen, als unsere Gegner? Schließlich wollten sie ja eine Show in dem wir uns gegenseitig abschlachteten. Also war es wohl besser man beherrschte eine Waffe. 
Trotzdem.
Es war das Kapitol. Wenn es etwas gab, was ihnen noch mehr Spaß machte, als andere Menschen zu unterdrücken, war es, andere zu quälen. Deswegen ließ ich mir Zeit und blieb den ganzen Vormittag bei dem Trainer. Er stellte mir Fragen, ich ihm und somit fühlte er langsam meine Lücken.
Als es Zeit zum Mittag essen war, hatte ich das Gefühl, mich mittlerweile in der Pflanzenwelt ganz gut auszukennen. Das ganze nachdenken hatte auch seinen Vorteil gehabt. Mein Kopf fühlte sich zwar mittlerweile schwer an, aber der Rest, die Übelkeit und der Schwindel, waren komplett weg.
Besser gelaunt, ging ich deswegen wieder zu dem Tisch, an dem wir gestern gegessen hatten. Valerian, Tansy, Bamboo und Canola waren schon da. Nur Jonny war nirgendwo zu sehen aber ich machte mir auch keine Gedanken darüber. Ich hatte ihn beim Training beobachtet. Er machte vielleicht die ganze Zeit Scherze aber er war sogar noch ungeschickter, als ich am Anfang vermutet hätte. Wahrscheinlich würde er nicht einmal den ersten Tag überleben, besonders wenn man bedachte wie Vetch ihn ansah. Der Junge aus Distrikt zwei hatte sich Jonny wohl als erstes Opfer ausgesucht. Es tat mir zwar leid für ihn, aber es war besser als wenn ich es gewesen wäre.
Während ich aß gab Bamboo Canola noch weitere Tipps. Aus dem Augenwinkel hatte ich gemerkt, dass die beiden gemeinsam trainiert hatten und das kleine Mädchen, dank seines Distriktpartners, richtig gut ihm ausweichen wurde. Vielleicht würde sie keine Kämpferin sein, aber wenn man sie nicht treffen konnte, konnte man sie nicht töten. Gerade als ich vor meinen Inneren Augen sah, wie Vetch, mit hochroten Kopf, vergeblich versuchte auf Canola, die flink auswich, einzuhieben und mir ein Lächeln nicht verkneifen konnte, schreckte mich eine fast leise, schüchterne Stimme auf: "Ich wollte dich fragen -"
Weiter kam sie nicht, da ich vor Schreck so stark zusammenzuckte, das ich meine Wasserflasche, die ich gerade in der Hand gehabt hatte, fallen ließ und sie genau auf den Schuhen des Mädchens landeten.
Zum ersten mal schaute ich sie an und sah ein dürres, blasses Kind vor mir. Wobei Kind wohl nicht richtig war. Sie war wohl eher mein Alter und wahrscheinlich sogar größer als ich, aber Gewichtstechnisch war nicht viel an ihr dran. Selbst nach der Bearbeitung des Vorbereitungsteams und eines Stylisten sah ihr dunkles Haar noch stumpf aus. Entweder ihr Team war schlecht oder das war eben alles was rauszuholen ging. Graue, große Augen, schauten mich aus tiefliegenden Augenhöhlen fast schreckhaft an. Sie erinnerte mich fast an ein Reh, welche ich früher im Wald gesehen hatte. Und da erkannte ich sie auch wieder, aus dem Fernsehen.
Das Mädchen aus Distrikt Zwölf
"Ach Mist.", kam es mir endlich über die Lippen, als ich die Augen von der bemitleidenswerten Person vor mir nehmen konnte. Ich beugte mich nach hinten über die Bank, um meine Flasche wieder aufzuheben und höchstens noch ein bisschen Wasser zu retten.
Meine Flasche hatte ich noch nicht einmal berührt, da sprang das Mädchen auch schon, wie aus einer Erstarrung erwacht, nach hinten weg.
"Tu...Tut mir Leid.", stammelte sie vor sich hin und schaute mich ängstlich an. Ich schluckte. Entschuldigte sie sich gerade bei mir dafür, dass ich ihr Wasser über die Schuhe geschüttet hatte.
"Nein mir tut es Leid.", erklärte ich energisch und schaute sie an, bis sie meinen Blick endlich erwiderte. "Ich war nur in Gedanken versunken. Tut mir Leid wegen der Schuhe."
Sie lächelte kurz dankbar, als sie auch schon wieder zusammen schreckte, weil Bamboo sie sanft ansprach: "Du wolltest was?"
"Ja ich", fing sie wieder an, stoppte dann aber kurz, als müsse sie ihren ganzen Mut zusammennehmen. "Ich hab dich und deine Partnerin beobachtet und ich wollte dich fragen, ob du vielleicht auch mal mit mir trainieren kannst."
Bamboo schaute sie kurz an, bevor sein Blick zu Canola wanderte, die leicht nickte. Erst dann antworte er: "Okay. Wenn du das willst, können wir nachher zusammen trainieren. Aber Canola bleibt bei uns."
Das Mädchen nickte eifrig und strahlte über das ganze Gesicht. Sie streckte ihre Hand in Richtung des Jungen aus Distrikt Elf. "Mein Name ist Lily... ich meine 12-01-16."
"Mmh, verstehe. Ich bin 11-02-18 aber ich bevorzuge Bamboo und ich denke ich kann mir Lily auch leichter merken.", erklärte mein Verbündeter, bevor er die Hand von Lily kurz schüttelte und sie glücklich davon ging.
Ich sagte nichts
Valerian und Tansy grinsten beide über das ganze Gesicht. Eine weile wartete Bamboo. Doch dann grunzte er: "Was!?"
"Du bist einfach zu gutherzig.", lachte Valerian liebevoll und Tansy neckte ihn weiter: "Ja. Unser großer, starker Teddybär. Na zumindest wird uns da nicht kalt in der Arena."
Bamboo grunzte nur wieder, schaute danach aber selber schmunzelnd auf sein essen, wodurch nun auch Canola in das Lachen der anderen einfiel. Alle anderen starrten zu unseren Tisch. Wahrscheinlich dachten sie wir wären mittlerweile komplett durchgeknallt. 
Was waren wir doch für ein Team. Drei Durchgeknallte, ein Teddybär und...ich. 
Ja, über die Allianz würde sicher viel geredet werden.
Ich konnte nicht weiter darüber nachdenken, da die Pause auch schon wieder zu Ende war.
Da ich wusste, dass ich sehr gut im klettern an Hauswänden und Fabrikgebäuden war, versuchte ich mich daran, nun an Seilen und Baumartigen Dingen heraufzuklettern. Es war anders, aber nicht wirklich schwerer. Trotz allem verlangte es jedes mal, wenn ich dran war, meine komplette Aufmerksamkeit. Immer wenn jemand anderes dran war, schaute ich zu den anderen. Mein Bruder trainierte mit Vetch und den Leuten aus Distrikt Eins. Bamboo hielt sein versprechen und kämpfte gegen das Mädchen aus Distrikt Zwölf. Ich beobachtete sie und überlegte mir, ob ich mir später vielleicht auch von ihm helfen lassen sollte. Kurz bevor ich wieder dran war, hörte Bamboo auf und fragte Lily etwas, doch die schüttelte nur den Kopf, worauf er die Augenbrauen zusammenzog, dann aber mit einen Schulterzucken weiter machte. Wahrscheinlich hatte er sie gefragt, ob sie eine Pause brauchte. Sie war rot im Gesicht und komplett aus der Puste. Was immer in ihren Distrikt vorgefallen war, es musste sie sogar noch schlimmer getroffen haben als uns anderen, den ihr Gesundheitszustand war schlecht und so weit ich das beurteilen konnte war der von ihren Partner, nicht sonderlich besser.
Ich versuchte nicht darüber nachzudenken. Sich Gedanken oder gar Sorgen, um die anderen zu machen, konnte mir den Kopf kosten. Das konnte ich mir nicht leisten. Ich musste mich auf mich selber konzentrieren.
Entschlossen griff ich wieder nach dem ersten Seil und zog mich nach oben. Mit grimmigen Gesichtsausdruck hangelte ich mich weiter nach oben, als ein Kreischen durch die Jugendlichen unter mir ging.
Vor Schreck hätte ich fast losgelassen, doch im letzten Moment griff ich nach dem nächsten Halt und konzentrierte mich erst einmal auf mich. Irgendetwas war passiert, aber darum konnte ich mich erst kümmern, wenn ich unten war.
Bitte nicht Kale, bitte nicht Kale, schoss es mir immer wieder durch den Kopf, als ich den schnellsten Weg nach unten suchte und die Stimmen der anderen, die durcheinander redeten, ignorierte. Woher der Gedanke kam wusste ich nicht. Ja, vielleicht hatte er sich andere Verbündete gesucht, aber er war immer noch mein Bruder. Ich hatte nur noch wenige Tage mit ihm, aber ich wollte die nicht auch noch verlieren.
Endlich unten angekommen, hatten die anderen sich schon in einem Kreis versammelt und starrten auf etwas herab, was ich nicht sehen konnte. Sie standen dort, wo alle im Nahkampf trainiert hatte, aber ich konnte nicht ausmachen, wer davor dort gestanden hatte. 
Also nahm ich meinen Mut zusammen und ging auf die anderen zu. Angekommen, musste ich mich mehr oder minder durch die Leute durchdrücken. Mit jedem Zentimeter den ich vorankam, wurde meine Angst größer, dass ich dort Kale vorfinden würde.
Gleichzeitig mit mir, brach auf der anderen Seite der Junge aus Distrikt Zwölf durch die Menge und schrie: "Was hast du getan? Was hast du getan, du Monster!"
Mein Blick haftete an der kleinen Gestalt am Boden. Mit weit aufgerissenen Augen und ihren Genick in einem unnatürlichen Winkel, lag Lily schlaff am Boden, umringt von knienden Trainern. Nach einer Weile schaute einer auf und suchte den Blick der Spielmacher, bevor er emotionslos verkündete: "Sie ist tot. Sie hat sich beim Sturz das Genick gebrochen."
Ein raunen und ersticktes Aufschluchzen ging durch die Menge, aber ich suchte nur Bamboos Blick. Seine große Gestalt stand zitternd, und auf Lilys Körper starrend da. Leise flüsterte er immer wieder: "Das hab ich nicht gewollt."

Sage Snowdrop | Die ersten Hungerspiele Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt