Düstere Geheimnisse

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Runya war es gewohnt, relativ schnell zu essen, vor allem morgens. In Vanaheim hatte sie eine Menge Pflichten gehabt und daher keine Zeit mit Trödeln verschwenden dürfen. Als sie fertig war, stand sie daher auf und ging hinaus auf den Flur – in der Erwartung, dort entweder den Schwarzhaarigen oder die beiden Dienerinnen vorzufinden. 

Doch der Gang lag verlassen vor ihr, sah man von dem Einherjar ab, der vor ihrer Türe postiert war. Er verzog jedoch keine Miene, und Runya beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und den Palast auf eigene Faust zu erkunden. Vermutlich würde sie sich schrecklich verlaufen, aber da es überall Bedienstete gab, würde ihr schon jemand den Weg zurück zeigen.

Fast kam sie sich ein wenig wie eine Abenteurerin vor, als sie so ganz allein durch die langen Gänge huschte. Sie studierte ihre Umgebung aufmerksam und war von Minute zu Minute mehr überwältigt von all der Pracht. Überall Gold, Marmor, edle Vorhänge und Wandbezüge... Wenn ihre Eltern das zu Gesicht bekamen, würden sie garantiert sofort den Palast in Vanaheim neu dekorieren wollen!

Der Gedanke brachte Runya beinahe zum Lachen. Doch ihre Fröhlichkeit verflog augenblicklich, als sie eine bekannte Stimme hörte. Instinktiv und ohne recht zu merken, was sie da überhaupt tat, presste sie sich an die Wand, sodass sie unbemerkt blieb, und lauschte.

«Ich kann dir nicht helfen, das weisst du doch.» sagte der Schwarzhaarige eindringlich. In seinem Tonfall schwang leise Verzweiflung mit. «Ich bin sogar der absolut letzte in diesem Palast, der das könnte!»

«Bitte..!» Das war die Stimme einer Frau. Auch sie klang verzweifelt, ja, geradezu panisch. «Sie haben immer noch Friggas Ohr, mein Prinz! Bitte... die lassen mich nicht zu ihnen. Sie nehmen sie mir weg! Ihr Bruder hat gesagt...»

«Leise.» gab der Mann zurück, und Runya war sich sicher, dass er gerade einige gehetzte Blicke um sich warf. «Wenn man dich hört. Oder uns hier zusammen sieht...»

«Sie werden ihnen doch nichts tun, mein Prinz.» Die Frau schien kurz davor zu sein, in Tränen auszubrechen.

«Das vielleicht nicht...» gab der Schwarzhaarige düster zurück. «Aber dir mit Sicherheit. Und hör auf, mich 'mein Prinz' zu nennen, Inaja! Wir wissen beide, dass ich das schon längst nicht mehr bin.»

Runya stockte der Atem. Das war also nicht nur eine Art Versprecher gewesen... Die Frau hatte wirklich Prinz gesagt! Aber dann... dieser faszinierende, geheimnisvolle Mann musste also... das bedeutete, er war...

«Bitte!» flehte die Frau namens Inaja weiter. Runya wagte einen Blick um die Ecke und sah, dass sie zu Boden gesunken war und auf den Knien lag. «Ich habe sonst niemanden, zu dem ich gehen kann..!»

Der Mann sah sie entsetzt an und zog sie rasch wieder auf die Beine. «Tu das nie wieder,» versetzte er heiser. «Knie nicht – nicht vor mir

Runyas Hand fuhr zum Mund. Die verzweifelte Szene ging ihr derart an die Nieren, dass sie krampfhaft irgendwelche Schreckenslaute zurückhalten musste. Ausserdem machte die Wahrheit, die sie soeben entdeckt hatte, sie schwindeln...

Die verzweifelte Frau schien erneut etwas sagen zu wollen, doch da fügte der Schwarzhaarige überraschend - und seltsam erschöpft - hinzu: «Na gut, ich werde versuchen, mit der Königin zu sprechen.»

Als die Frau ihm überschwänglich danken wollte, nahm er ihre Hände in die seinen und sagte traurig: «Aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen, Inaja.»

«Sie sind der Sohn unserer geliebten Königin,» gab Inaja zitternd zurück. «Auf sie wird sie bestimmt...»

«Die Königin von Asgard hat nur einen Sohn,» wurde sie leise unterbrochen. «Und der heisst Thor.»

Runya hielt es nicht mehr länger aus. Sie drehte sich um und hastete davon. Während sie ziellos durch die Gänge rannte, quollen Tränen aus ihren Augen.

Nein, sie besass nicht zuviel Fantasie!

Ihre erste, instinktive Abneigung gegen Asgard, die sie bei ihrer Ankunft empfunden hatte, war richtig gewesen: in diesem Königreich stimmte so einiges nicht. Es gab Geheimnisse, dunkle Geheimnisse.

Und eines davon war die Frage, wie aus dem zweitgeborenen Prinzen des Reiches ein Sklave werden konnte...

LOKI... Du meine Güte, ihr persönlicher Diener war Loki!

Runya wusste über ihn fast noch weniger als über Thor. Der hatte immerhin überall von sich Reden gemacht durch seine diversen Heldentaten (wobei er auch stets dafür gesorgt hatte, dass die Geschichten an allen Orten verbreitet wurden). Aber Loki...

Alles, was sie von ihm wusste, war, dass er die Magie beherrschte. Und dass er vor rund vier Jahren mal eine kurze Zeit auf dem Thron gesessen hatte, ehe irgend etwas Seltsames geschehen war (allerdings waren nie irgendwelche Details durchgesickert) und er sich danach angeblich in den Tod gestürzt hatte.

Aber dann hatte es plötzlich geheissen, dass er noch am Leben – und auf Midgard - sei. Doch danach... hatte man nichts mehr von Loki gehört.

Jedenfalls nicht in Vanaheim.

Runyas Kopf brummte, als ob ein ganzer Bienenstock darin herumschwirren würde. Hatte sie etwas falsch verstanden? Hatte die Frau den Mann vielleicht einfach so 'Prinz' genannt?

Aber nein: es war offensichtlich, dass sie von Frigga als seiner Mutter gesprochen hatte. Womit der Schwarzhaarige eindeutig ein Prinz war. Und da Odin ausser Thor nur noch einen Sohn hatte...

Loki... Aber konnte das wirklich sein? Er war so ganz anders als Thor! Und er glich auch weder Odin noch Frigga.

Frigga... 

Die Antwort, die er auf Inajas Worte gegeben hatte, fiel der jungen Prinzessin wieder ein. 'Die Königin von Asgard hat nur einen Sohn, und der heisst Thor'... Wie trostlos und bitter zugleich seine Stimme geklungen hatte! Es jagte ihr erneut einen eisigen Schauer über den Rücken, als sie daran dachte.

Und wer war diese Inaja? Weshalb war sie derart verzweifelt? Und wobei sollte Loki ihr helfen?

Tausend Fragen – und Runya war sich nicht sicher, ob sie die Antworten überhaupt erfahren wollte!

Loki: the fallen Prince - der gefallene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt