Tausend Fragen - wenige Antworten

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Runya war sehr schweigsam beim Essen. Zunächst fiel es gar nicht weiter auf, da sie auch bis anhin nicht besonders viel gesprochen hatte. Doch irgendwann neigte sich Frigga besorgt zu ihr herüber und fragte: «Ist etwas, Runya? Du bist so still.»

Die junge Prinzessin erschrak. Sie war so in ihre düsteren Gedanken verstrickt gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie kaum am Gespräch teilnahm.

«N... nur etwas Kopfschmerzen.» log sie. «Es war ein langer Tag.»

Sie wurde rot und wusste im selben Moment, dass man ihr wohl deutlich ansah, dass sie eben geschummelt hatte.

«Wenn dich ein paar wenige Stunden im Sattel derart müde machen, werde ich dir das nächste Mal eben einen Fluggleiter zur Verfügung stellen.» meinte Thor leicht abschätzig und griff nach einer grossen Hühnerkeule.

Runya schoss das Blut noch mehr ins Gesicht. «Die vielen Eindrücke haben mich nur überwältigt, das ist alles.»

Frigga, die instinktiv spürte, dass die junge Frau von etwas abzulenken versuchte, legte ihrem Sohn beschwörend die Hand auf den Arm und meinte: «Sei nicht so unhöflich, mein Lieber. Deine junge Braut muss sich doch erst mal an alles gewöhnen. Und du hast sie ja wirklich den ganzen langen Tag von einem Ort zum anderen geschleppt.»

«Ja, das war nicht sehr rücksichtsvoll von dir.» mischte sich jetzt auch Odin ein. Dann wandte er sich mit einem Lächeln an Runya – dem ersten, das sie von ihm erntete. «Verzeih meinem Sohn. Er ist sehr ungestüm und vergisst bisweilen, dass nicht alle so vor Kraft strotzen wie er.»

Mit einem lauten Knall liess Thor die Hühnerkeule auf den Teller fallen und erhob sich wütend. «Vater, es ist unnötig, dass du für mich sprichst! Wenn du mir eine Braut suchst, die derart schwach ist, ist das nicht meine Schuld!»

«Thor!» Das waren Odin und Frigga gleichzeitig.

Doch der blonde Donnergott hörte schon gar nicht mehr hin. Er wandte sich um und stürmte aus dem Zimmer, das Gesicht vor Wut verzerrt.

Runyas Augen füllten sich mit Tränen. Sie nahm die Serviette und versuchte, es zu verbergen, aber Frigga hatte es natürlich bemerkt. Die Königin warf ihrem Mann einen eindringlichen Blick zu. Odin verstand und ging Thor hinterher.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, neigte sich Frigga zu Runya hinüber und sagte mitfühlend: «Ich weiss, das ist alles nicht leicht für dich, mein Kind. Und Thor ist im Moment so... ruppig.» Sie seufzte tief und schien einen Moment zu zögern, ob sie weitersprechen sollte. Aber dann tat sie es doch. «Bitte verzeih ihm. Ich bin sicher, er meint es nicht so. Er ist eigentlich... ganz anders.»

«Ganz anders..?» Runya schniefte und sah wieder auf. Wie anders konnte dieser grobe, laute Mann denn wohl sein?

Friggas Augen blickten traurig. «Er hat sich verändert. Es begann mit Lokis Versuch, Midgard zu...» Sie unterbrach sich. «Ich nehme an, du kennst die Geschichte?»

Die junge Frau schüttelte benommen den Kopf. «Nein, das tue ich nicht.» Unwillkürlich hielt sie den Atem an.

Wieder entrang sich ein tiefer Seufzer Friggas Brust. «Loki hat versucht, Midgard zu erobern. Zum Glück ist es Thor und seinen irdischen Freunden gelungen, das zu verhindern. Aber Loki hat... Tausende von Menschen getötet. Natürlich nicht er selbst, sondern die Armee, die für ihn kämpfte, aber da sie unter seinem Befehl stand, war es letztlich Lokis Schuld. Diese Krieger waren Chitauri, Wesen von einer uns bis dahin fast unbekannten Welt. Und bis heute wissen wir nicht, wie und wo er sie gefunden hat. Aber sie haben in seinem Namen ungeheures Leid über die Erde gebracht.»

Die Königin erhob sich und trat ans Fenster. Ihr Blick verlor sich in der unendlichen Weite zu ihren Füssen. «Es war... schwierig, Loki zu stoppen. Wäre Thor nicht gewesen, hätte sein Bruder die Erde mit Sicherheit erobert. Aber wie gesagt: mein Ältester konnte ihn aufhalten und nach Asgard zurückbringen, wo er...» Sie holte tief Luft, «...seiner gerechten Strafe zugeführt wurde.»

Die letzten Worte klangen so, als glaube sie nicht wirklich, was sie da sagte. Als müsse sie sich selbst von etwas überzeugen, woran sie zweifelte.

Doch ehe Runya etwas einwerfen konnte, fuhr Frigga leise fort: «Daraufhin herrschte Chaos in allen neun Welten. Überall erhoben sich Asgards Feinde, ermutigt durch Lokis Taten... Thor wurde von Odin geschickt, um die Ordnung wieder her zu stellen. Das tat er auch... Aber seit seinem letzten Einsatz auf Svartalfheim ist er völlig verändert. Er scheint dauernd wütend zu sein und kommt gar nicht mehr richtig zur Ruhe.» Sie fuhr sich mit zittriger Hand über die Stirn und wandte sich wieder um. «Ich glaube, es hat auch viel damit zu tun, dass er wegen Loki so aufgewühlt ist. Er liebt seinen Bruder und kann bis heute nicht fassen, dass dieser derart tief gefallen ist. Dass er... solche Schande über Asgard gebracht hat.»

Er liebt seinen Bruder..? Runya meinte, sich verhört zu haben! Hatte Frigga denn nicht mitbekommen, wie Thor über Loki sprach? Und wusste sie etwa nicht, wie er ihn... behandelte?

Doch wieder kam sie nicht dazu, etwas zu einzuwerfen, weil Frigga jetzt mit festerer Stimme sagte: «Lassen wir das. Ich glaube, für heute hast du genug erlebt. Du bist sicher müde und wärst dankbar, wenn du dich zurückziehen dürftest.»

Eigentlich war es das letzte, was Runya jetzt wollte. Jetzt, wo sie langsam ein paar Antworten bekam.

Aber da sie nicht unhöflich sein wollte und vor allem nicht vorhatte, Frigga zu bedrängen, nickte sie ergeben. «Ja, ich würde wirklich gern in meine Gemächer zurückgehen.»

Frigga nahm sie in die Arme und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. «Schlaf gut, mein Kind. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.»

Das bezweifelte Runya zwar zutiefst, doch sie lächelte tapfer und wünschte der Königin ebenfalls eine gute Nacht.

Loki: the fallen Prince - der gefallene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt