Kapitel 10

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Langsam schlich ich durch das unheimlich stille Gebäude. Die einzigen Geräusche kamen von den Glasscherben und Bruchstücken verfallener Mauern, welche unter meinen Füßen knirschten. Ich hielt den Atem an und schlich um eine Ecke. Jederzeit erwartete ich, dass jemand aus einer der vielen dunklen Nischen sprang und mich attackierte.

Zwar hatte ich keine Ahnung wo ich war und wie ich je aus diesem Labyrinth aus Gängen entkommen sollte, in dem ich mich befand, doch ich hatte nicht sonderlich viele Möglichkeiten und einfach immer weiter voran zu gehen, schien mir die Beste. Also lief ich einfach, nahm immer wieder verschiedene Abkürzungen und betete zu Gott, dass es die richtigen waren. Beinahe erwartete ich, dass jemand mein wild klopfendes Herz hören würde, so laut erschien es mir in dieser gespenstischen Stille, doch dem war nicht so.

* * *

Nach einer kleinen Weile erreichte ich schließlich eine schwere Stahltür, die in eine Produktionshalle führte. Ich schlüpfte hindurch und konnte die Tür danach gerade noch rechtzeitig aufhalten, bevor sie lautstark ins Schloss fiel. Staunend sah ich zu der hohen Decke empor. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie es gewesen war, als mein Vater mich in eine seiner Fabriken mitgenommen hatte, als ich noch ein Kind war. Fasziniert hatte ich die großen Maschinen angesehen und die Arbeiter, die sie gekonnt gesteuert hatten. Damals hatte ich das alles so bewundert und jetzt war ich wieder an so einem Ort und empfand nur Furcht.

Kopfschüttelnd löste ich mich von diesen Erinnerungen und schlich ein wenig in die Schatten, damit mich nicht sofort jeder sah, der die Halle betrat. Gerade als ich weiterlaufen wollte, legte mir jemand die Hand auf den Mund und packte mich.

Sofort wollte ich anfangen zu schreien und mich zu verteidigen, aber als ich herumgedreht wurde und erkannte wer da vor mir stand, hätte ich viel lieber einen Freudenschrei ausgestoßen. Jack stand vor mir, zwar mit aufgeplatzter Lippe, aber ansonsten unversehrt. Er sah mich beinahe ungläubig an, als könne er nicht glauben, dass ich tatsächlich vor ihm stand. Ich musste genauso aussehen wie er. Und einige Momente standen wir einfach nur so da, bevor Jack mich in eine Umarmung zog. Ich fühlte mich als würde ich jeden Augenblick anfangen zu weinen, so viele Gefühle und Empfindungen Jack gegenüber durchströmten mich, die ich nicht so recht definieren konnte. Aber er war hier, hier bei mir und es schien ihm gut zu gehen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mein Gesicht in Jacks Hemd vergraben und die Zeit angehalten, damit wir für immer in diesem Augenblick verbleiben konnten. Aber das war nicht möglich.

Widerstrebend lösten wir uns voneinander und sahen uns an. „Geht es dir gut?", hauchte Jack und fuhr währenddessen mit den Fingerspitzen über meine Wange, was mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Hastig nickte ich. Er sollte sich auf keinen Fall Sorgen um mich machen, immerhin war mir bis auf die Ohrfeige auch nichts weiter geschehen. „Was ist mit dir?", fragte ich so leise wie möglich und begutachtete seine aufgeplatzte Lippe. „Wo warst du überhaupt und..." Doch bevor ich weiterfragen konnte, brachte mich Jack mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er brauchte nichts sagen, ich verstand ihn auch so. Jetzt war nicht der Augenblick, um Fragen wie diese zu erläutern.

„Und wie soll es jetzt weitergehen?", wisperte ich, wobei ich eigentlich nur die Lippen bewegte, da ich es nicht wagte, lauter zu sprechen. Aber Jack schien mich trotzdem verstanden zu haben. Stirnrunzelnd sah er sich um, suchte nach Fluchtmöglichkeiten. Auch mein Blick schweifte über die umliegenden Maschinen und Geräte, doch jede Möglichkeit, irgendeine Art von Ausgang zu finden, beinhaltete, dass wir die Produktionsstädte durchqueren mussten, was ein hohes Risiko barg. Die Seite der Halle, in der wir uns befanden, war vollgestellt mit Maschinen und allerlei Gerümpel, sodass kein unbemerktes Hindurchschleichen möglich war.

Da hörten wir plötzlich laute Stimmen und Schritte. Sofort machte ich mich stocksteif und wagte es nicht zu atmen, aus lauter Angst, erwischt zu werden. Jack neben mir wurde ebenso still und ich merkte wie er sich langsam vor mich schob, dass falls wir entdeckt würden, er mich beschützen konnte. Ein Anflug von Wärme überkam mich bei dieser kleinen Zurschaustellung seiner Ritterlichkeit. Allerdings waren jegliche Gefühle in diese Richtung gerade dermaßen unangebracht, dass ich sie zu unterdrücken versuchte und mich mühte dem Gespräch der Leute zu lauschen, die soeben in die unmittelbare Nähe unseres Versteckes gekommen waren.

A Girl Made Of IvoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt