Kapitel 22

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Das Gefühl, das mich durchströmte, als wir die Allee zu meinem Zuhause hinauffuhren konnte ich nicht in Worte fassen. Es kam mir vor als wäre es Jahre her gewesen, seid meine Eltern mich fortgeschickt hatten und nicht nur wenige Tage. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich mein Zuhause vermisst hatte, doch jetzt wo die Fassade des Anwesens immer näher rückte, traten mir Tränen in die Augen. Ich klammerte mich an Jacks Hand, damit ich nicht vollkommen die Fassung verlor und konnte spüren, dass seine Finger eiskalt waren. Besorgt sah ich mich zu ihm um. Jack lächelte tapfer, doch die Erschöpfung zeichnete sich deutlich auf seinem Gesicht ab.

Als wir den Brunnen umrundeten, der das Zentrum des Kiesplatzes vor unserem Haus bildete, konnte ich sehen wie die große Eingangstür geöffnet wurde und meine Mutter hinaustrat, gefolgt von meinem Vater. Auf den ersten Blick konnte ich erkennen, dass Mom abgemagert wirkte und auch der Anzug meines Dads saß lockerer als ich es in Erinnerung hatte. Da hielt Victor auch schon und drehte sich zu uns um, ein warmes Lächeln auf dem Gesicht. „Sie werden bereits erwartet", sagte er zu mir, doch bevor ich ausstieg wandte ich mich an Jack und als hätte er meine Gedanken gelesen schüttelte er den Kopf. „Geh schon vor", sagte er sanft. „Ich komme nach."

Auch wenn es mir wiederstrebte ihn im Wagen mit Victor zurückzulassen, war der Drang meine Eltern zu sehen so groß, dass ich die Autotür aufriss und die Stufen zum Haus hinauflief. In dem Moment, als ich meine Arme um meine Mutter schlang und mir ihr vertrauter Geruch in die Nase stieg, begann ich zu weinen. Ich war wieder zuhause. Erst jetzt, da mir meine Eltern leibhaftig gegenüberstanden und sich ihre Arme um mich schlossen, wurde mir klar, wie groß meine Angst gewesen war, dass wir nie wieder nach Hause kommen würden. Doch jetzt hielt Mum mich so fest an sich gepresst, dass mir beinahe die Luft wegblieb, strich mir über den Kopf und murmelte immer wieder wie froh sie war mich wieder bei sich zu haben. „Nun musst du sie aber loslassen, Darleen, sonst erwürgst du sie noch", ertönte plötzlich die tiefe, sonore Stimme meines Vaters und ich löste mich von meiner Mutter, um meinen Dad begrüßen zu können. In seinen Augen stand dasselbe väterliche Lächeln, mit dem er mich schon immer bedacht hatte, allerdings waren direkt darunter dunkle Ringe zu sehen und als ich ihn genauer betrachtete, sah ich, dass er außerdem merklich dünner geworden war, sodass sein Anzug ihm ein wenig zu groß wirkte. Auch an meiner Mutter waren die letzten Tage nicht spurlos vorbeigegangen. Ihr Gesicht war ausgemergelt und ihre Haare schienen nichts von dem sonst üblichen Glanz innezuhaben. Besorgt betrachtete ich die beiden und in ihren Augen stand dieselbe Sorge. Vermutlich sah ich furchtbar heruntergekommen aus und am liebsten wäre ich ihren Blicken entflohen, damit sie nicht noch beunruhigter wurden als ohnehin schon. Doch da zog mich mein Dad in seine Arme und all diese flüchtigen Gedanken an mein Aussehen waren wie weggeblasen.

Nach nur wenigen Augenblicken löste sich seine Umarmung ein wenig und er sah auf die Treppen hinunter, wo ein blasser Jack sich, schwer auf Victor gestützt, die Stufen hinauf schleppte. Die Schmerztabletten schienen endgültig ihre Wirkung verloren zu haben und durch den hellen Stoff des Hemdes war rotes Blut zu sehen. Mischa musste mit seiner Attacke einen wirklich großen Schaden angerichtet haben.

Noch bevor Jack und Victor uns erreicht hatten, gab Dad seinem Butler, der neben der Eingangstür gestanden hatte, ein Zeichen und dieser verschwand ins Innere unseres Hauses, um nur wenige Augenblicke später mit zwei Krankenschwestern wieder herauszukommen, die Jack entgegenrannten und ihn behutsam ins Haus führten. Bevor er jedoch gehen konnte, hielt Dad meinen Leibwächter zurück. In seinem Gesicht standen unfassbare Dankbarkeit und Respekt. „Ich werde Ihnen nie genug dafür danken können, dass Sie meine Tochter unversehrt nach Hause gebracht haben. Sollten Sie irgendeine Idee haben, wie ich Ihnen diese Schuld jemals zurückzahlen kann, sagen Sie es mir nur und ich werde Himmel und Erde in Bewegung setzten, damit Sie bekommen was Sie wollen", sagte mein Vater ernst und legte dabei seine Hand auf Jacks unverletzte Schulter. Jack lächelte müde. „Ich habe es gern getan", erwiderte er und sein Blick wanderte zu mir hinüber. Ich wusste, dass er dieselbe Erleichterung darüber empfand, wieder hier zu sein, wie ich. Bevor ich jedoch etwas zu ihm sagen konnte, verschwanden die Krankenschwestern bereits mit ihm.

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