Kapitel 15

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Ich hatte keinen blassen Schimmer wie viel Zeit vergangen war, doch irgendwann lösten wir uns schwer atmend voneinander. Trotz des kalten Regens waren Jacks Wangen so gerötet, wie meine sich anfühlten. „Vielleicht sollten wir langsam ins Trockene gehen", flüsterte er, machte aber keine Anstalten sich in Bewegung zu setzten. „Vielleicht sollten wir das", murmelte ich, obwohl sich alles in mir davor sträubte ihn loszulassen. Doch als er wieder mit einem Daumen über meine Wange strich, merkte ich wie kalt sie war und trat einen Schritt zurück, sodass er mich losließ. „Wir sollten wirklich nicht noch länger in diesem Regen stehen bleiben, sonst erfrieren wir", sagte ich, obwohl mir gerade eher zu warm als zu kalt war.

Als wir losliefen nahm er meine Hand wie selbstverständlich in die seine, was mein Herz einen kleinen Hüpfer machen ließ. Wir liefen immer schneller, bis wir schließlich rannten, um so schnell wie möglich in unser Motel zu gelangen. Es war das erste Mal in diesen Tagen, dass wir nicht rannten, weil Männer mit Waffen hinter uns her waren, die uns umbringen wollten. Was für ein eigenartiger Gedanke das doch ist, flüsterte meine innere Stimme, doch wie immer schaffte ich es sie einigermaßen in den Hintergrund zu verdrängen. Viel lieber konzentrierte ich mich darauf, wie es sich anfühlte Jacks Hand zu halten und mit ihm gemeinsam durch den Regen zu laufen. Ich schwor mir, dass ich – egal was noch passieren würde – diesen Moment niemals vergessen würde.

Kaum das die Tür unseres Motelzimmers hinter uns geschlossen war, drückte Jack mich dagegen und seine Lippen auf meine. Ich stöhnte, als er seinen harten Oberkörper gegen meinen drückte und ich seine Muskeln spüren konnte. Unsere Hände verschränkten sich miteinander, als er meine Lippen teilte und ein Gefühl der Lust, wie ich es noch nie empfunden hatte, mich durchströmte. Mir war klar, dass ich eigentlich noch immer sauer auf ihn war, dass er einige Jahre älter war als ich und, dass meine Mutter in Ohnmacht fallen würde, falls sie wüsste was ich hier tat. Doch Jack übte eine so überwältigende Anziehung auf mich aus, dass alles andere nebensächlich schien.

Wir lösten unsere Hände voneinander, sodass ich meine in seinem regennassen Haar vergraben konnte, während seine immer weiter hinunter über meine Schultern bis zu meinen Hüften strichen. Seine Lippen wanderten von meinen Lippen zu meinem Kiefer und Hals, was einen wohligen Schauer bei mir auslöste und mich dazu brachte ihn noch näher zu mir zu ziehen. Seine Lippen fanden wieder zurück auf meine und legte eine Hand auf meine Wange. Sie fühlte sich angenehm kühl in meinem heißen Gesicht an. Ich schlang die Arme um seinen Hals, um irgendwo Halt zu finden, weil ich das Gefühl hatte jeden Moment zu zerspringen.

Einen Moment später löste Jack sich von mir, sein Atem ging genauso schnell wie meiner und seine Wangen waren genauso gerötet. In seine Augen war ein Glanz getreten, den ich zuvor noch nie gesehen hatte, aber es sah wunderbar aus. So ... glücklich. Das hatte ich noch nie bei ihm gesehen.

„Eigentlich bin ich immer noch sauer auf dich", murmelte ich, klang dabei aber nicht besonders überzeugt. Jack musste lächeln. Mit dem Daumen fuhr er meine Schläfe und Wangenknochen nach. „Du hast jedes Recht sauer auf mich zu sein", sagte er leise. „Es war unglaublich dumm, was ich getan habe." Ich versuchte, die Wut auf ihn heraufzubeschwören, die ich gefühlt hatte, bevor er mich geküsst hatte, doch es klappte nicht. Nicht wenn er mich so ansah wie jetzt.

„Versprich mir nur, dass du sowas nie wieder machst." Ich sah ihn eindringlich an und er erwiderte meinen Blick mit derselben Ernsthaftigkeit, als er nickte. „Ich verspreche es dir. Aber als dieser Typ dich angefasst hat, da habe ich einfach rot gesehen...", Jack brachte den Satz nicht zu Ende, aber das brauchte er auch nicht. Es war alles gesagt. Ich erinnerte mich an das was er mir über die Schlägereien in seiner Jugend erzählt hatte, dass er deswegen in sämtlichen Bars Hausverbot bekommen hatte. Da war immer noch zu wenig, dass ich über ihn wusste, aber egal was er mir erzählen würde, welche furchtbaren Geschichten aus seiner Vergangenheit noch zu Tage kommen würden. Ich war mir absolut sicher, dass es nichts gab was mein Bild von ihm verändern könnte. Dafür hatte er schon viel zu viele gut Dinge für mich getan. Er war ein mutiger, aufrichtiger, fürsorglicher Mann und das war alles was zählte.

„Warum siehst du mich so an?", fragte Jack und zog eine Augenbraue hoch. Ich schüttelte den Kopf um aus meinen Gedanken hervorzutauchen. „Wir sind noch immer vollkommen nass", sagte ich schnell um ihm nicht die Gelegenheit zu geben, meine Gedanken zu erraten. „Wir sollten uns jetzt trockenlegen." Zwar konnte ich ihm ansehen, dass er von meinem plötzlichen Themawechsel überrascht war, doch Jack sagte nichts, als ich mich von ihm löste und ins Badezimmer verschwand.

* * *

Mein Kopf lag auf Jacks Brust und ich sah auf unsere verschlungenen Finger. Mein Kleid hatte einen so festen Stoff, dass es nur schwer zu trocknen war, also hatte Jack mir sein Hemd überlassen und trug selbst nur noch sein Unterhemd. Ich hatte mir nie vorstellen können einem Mann so nahe zu sein, vor allem wenn ich noch nicht einmal richtige Kleider trug, aber es fühlte sich so richtig und so gut an hier bei ihm zu liegen. Ich schloss die Augen und hörte nur auf seinen ruhigen Atem. „Kat? Schläfst du?", flüsterte Jack und strich mit dem Daumen über meine Schulter. „Nein, auch wenn es vermutlich gut wäre endlich einmal einzuschlafen", antwortete ich und von Jack kam ein zustimmendes Brummen. „Ich kann aber nicht schlafen", gestand ich, während ich mit Finger die Lebenslinien auf seiner Handinnenfläche entlangfuhr. „Ich auch nicht."

Wir lagen wieder schweigend da und ich fühlte mich so entspannt wie lange nicht mehr. „Beinahe hätte ich vergessen, dir zu sagen, dass wir morgen verabredet sind", unterbrach Jack schließlich die Stille. Überrascht sah ich zu ihm hoch. „Mit wem denn?" Er räusperte sich und legte seinen freien Arm unter seinen Kopf. „Er ist ein alter Freund, oder besser Bekannter. Jemand mit vielen Kontakten. Vielleicht kann er uns dabei helfen mehr über die Kolesnikows herauszufinden. Damit wir endlich ein richtiges Bild davon kriegen womit wir es hier eigentlich zu tun haben." Wieder sträubte ich mich bei der Erwähnung dieses Namens und alle grausamen Erlebnisse der letzten Zeit traten vor mein inneres Auge.

„Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie alle, grausame und furchtbare Personen sind", sagte ich heiser und musste an Victor denken. Sofort packte mich mein schlechtes Gewissen. In den letzten Tagen hatte ich kaum an ihn gedacht. Ich hatte so viel mit mir selbst zu tun gehabt, dass ich keinen Gedanken an meinen toten Leibwächter verschwendet hatte. Aber jetzt, wo ich mich entspannen konnte und Zeit zum Durchatmen hatte, merkte ich wie sämtliche schlechte Erinnerungen und Gedanken, die ich bisher erfolgreich verdrängt hatte, mich wieder einholten. Sie krochen wie eine Vergiftung in meinen Kopf und legten Ketten um meine Brust, die mir das Atmen erschwerten.

„Ist alles in Ordnung?", fragte Jack, als er merkte, dass mein Atem stockte. Ich schüttelte nur den Kopf. „Ich musste gerade an Victor denken", antwortete ich. Meine Stimme klang ganz erstickt. „Er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Wäre er nur auch aufgestanden, wenn wir ihn nur geweckt hätten..."

„Stopp", unterbrach er mich. „Wenn wir jetzt anfangen uns mit Was-wäre-wenn-Fragen zu quälen hilft uns das nicht weiter. Es wird alles nur um so schwerer machen. Wir müssen uns auf das hier und jetzt konzentrieren, sonst kommen wir nicht weiter, einverstanden?" Ich antwortete nur mit einem Nicken. Seine Worte waren nicht gerade tröstlich, aber ich wusste, dass er Recht hatte.

Jack legte sich so hin, dass sein Arm zwar noch immer unter meinem Kopf lag, er mich aber ansehen konnte. Inzwischen war es dunkel geworden und es fiel nur das Licht der Leuchtreklame von dem nebenstehenden Gebäude in unser Zimmer, doch er war mir so nah, dass ich beinahe jedes Detail in seinem Gesicht ausmachen konnte. Keiner von uns sagte etwas, wir lagen einfach da, lauschten den Stimmen und Schritten von Leuten, die an unserer Zimmertür vorbeikamen und dem Brummen der Motoren, die die Straße vor dem Motel entlangfuhren. Obwohl es nur ein paar Tage waren, fühlte es sich an, als hätten diese Geräusche mich bereits mein Leben lang begleitet. Es war so seltsam, wie schnell die Zeit vergehen konnte, während sie manchmal einfach nicht voranschritt.

Ich gab mir alle Mühe die Augen offenzuhalten. Dieser Abend war der erste an dem ich nicht verängstigt oder durcheinander war und ich hatte Angst, dass das morgen wieder anders sein konnte. „Wir sollten jetzt wirklich schlafen", flüsterte Jack und ich war einfach zu müde um ihm zu widersprechen. Doch sobald ich meine Lider schloss, waren da Bilder von dem Mann, der mir ins Gesicht schlug, die Geräusche der Kugeln, die auf uns abgefeuert wurden. Aber ich hörte auch Jacks ruhigen Atem. Ich hatte ihn schon so oft gehört, jede Nacht, die wir in diesen furchtbaren Motelzimmern verbracht hatten und er beruhigte mich augenblicklich. Jack war das einzige, was meinem Leben gerade konstant war. Er wusste immer was zu tun war, er besaß die Kontrolle, die ich verloren hatte. Keine Ahnung ob ich ihn dafür lieben oder hassen sollte. Dieser Gedanke brachte mich dazu zu schmunzeln und ich schlief das erste Mal seit langer Zeit mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

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