Kapitel 27

213 7 0
                                    

Ich wartete darauf, dass die Kugel mich traf. Ich wartete darauf, dass ein Geschoss mir den Schädel durchbohren und alles vorbei sein würde, aber nichts passierte.

Stattdessen hörte ich einen anderen Menschen schmerzhaft aufschreien. Hektisch riss ich den Kopf hoch und sah mich um. Kolesnikow war zu Boden gesunken und presste mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand auf seine Schulter. Verwirrt sah ich mich um, auf der Suche nach einem Schützen und konnte meinen Vater mit ausgestrecktem Arm, die Waffe direkt auf Nikolaj Kolesnikow gerichtet dastehen sehen. Seine Miene war regungslos und erst ganz langsam wurde mir bewusst, dass er mir gerade das Leben gerettet hatte. Augenblicklich richteten alle von Kolesnikows Männern, die noch übrig waren, die Waffen auf meinen Vater.

Sofort war meine Angst wieder da, aber dann ertönte ein durch ein Megafon verstärkte Stimme, die uns alle zusammenzucken ließ. „Hier spricht das LAPD! In zehn Sekunden öffnen wir das Haupttor und betreten das Gebäude! Legen Sie alle Ihre Waffen vor sich auf den Boden und Ihre Hände hinter den Kopf! Wenn Sie unseren Anweisungen nicht folgen, sind wir gezwungen Gegenmaßnahmen zu ergreifen!" Einen Moment lang herrschte eine ohrenbetäubende Stille, dann konnte ich hören, wie Waffen auf den Steinfußboden gelegt wurden. Erst da wagte ich es von Jacks Körper hinunterzurutschen. Ich setzte mich stattdessen neben ihn und nahm seine Hände in meine. Keiner von uns hatte eine Ahnung wie es weitergehen würde, wenn die Polizei durch diese Tür schritt, aber immerhin waren wir alle am Leben und das war das Einzige, was zählte.

* * *

Alles was passierte nachdem die Polizei in die Fabrikhalle gestürmt war, ist im Nachhinein ein wirrer Strom von Ereignissen, die mir nur noch bruchstückhaft in Erinnerung geblieben sind. Zum Beispiel weiß ich noch sehr genau wie ich mich fühlte, als ein Polizist mit Vollbart und grimmiger Miene mir Handschellen anlegte und mir meine Rechte vorlas. Alles in mir war taub und ausgelaugt und ich ließ es willenlos über mich ergehen, dass er mir das kalte Metall um meine Handgelenke legte, bis zu dem Moment als er versuchte mich von Jacks reglosem Körper fortzuziehen. Da begann ich zu schreien und mich zu wehren. Verzweifelt versuchte ich dem Officer klar zu machen, dass ich Jack nicht allein lassen könne, dass er verletzt sei und dringend Hilfe benötigte. In diesem Moment kamen bereits andere Männer hinein. Sie trugen keine Polizeiuniformen und hoben Jack auf eine Trage. Mit angsterfülltem Blick und vom Schreien heiserer Kehle verfolgte ich wie sie Jack in einen Krankenwagen brachten und mit ihm davonfuhren.

Hektisch sah ich mich nach meinem Vater um konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Ich betete zum Himmel, dass er bereits ins Krankenhaus gebracht worden war und nicht etwa in Handschellen in einem dieser Streifenwägen saß.

Die Sorge um Jack und meinen Vater fraß mich von innen auf, während ich außerhalb des Gebäudes saß und einen Sanitäter meinen Streifschuss verarzten ließ, bevor ein Officer mich auf die Rückbank eines Polizeiautos drückte und mich auf das Revier brachte. Dort wurden mir unzählige Fragen gestellt, die ich so gut ich konnte, beantwortete, in der Hoffnung, dass sie mich dann so schnell wie möglich wieder gehen lassen würden.

Irgendwann ließen sie mich tatsächlich gehen und ich hatte keine Ahnung, ob das an den Antworten lag, die ich ihnen gegeben hatte, oder daran, dass die Ermittlungen erwiesen hatten, dass ich nicht zu den Bösen in diesem Fall gehörte.

Als ich schließlich aus dem kargen, grauen Verhörraum kam, sah ich zu meiner großen Überraschung meine Mutter auf einem der kotzgelben Besucherstühle aus Plastik sitzen. Sie wirkte bleich und übermüdet, aber als sie mich sah, strahlte sie, bis sie den Verband um meinen Arm bemerkte und sorgenvoll die Stirn runzelte. Ich musste ihr versichern, dass ich keine Schmerzen oder sonstigen Verletzungen hatte, erst dann zeigte sich wieder so etwas wie Erleichterung auf ihr Gesicht trat. Sie umarmte mich bestimmt ein Dutzend Mal und sagte mir wie froh sie war, dass es mir gut ging und dass sie vor Sorge fast gestorben wäre.

A Girl Made Of IvoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt