Patricia und Sylvia kamen mich auch die nächsten beiden Tage besuchen, sie gaben sich alle Mühe mich aufzumuntern, doch es gelang ihnen nur mäßig. Zum einen, weil sie mich ständig behandelten als wäre ich ein rohes Ei oder als könnte ich jeden Moment eine Panikattacke erleiden, was vermutlich an dem lag was ich ihnen erzählt hatte. Und außerdem wanderten meine Gedanken wie von selbst immer wieder zu Jack und auch in den Nächten konnte ich schlecht schlafen. Offenbar hatte Jacks Anwesenheit die Alpträume von mir ferngehalten, denn seid ich zuhause war, träumte ich ständig davon, dass ich durch neblige Straßen wanderte, in denen plötzlich Mischa, der alte Mann oder ein gesichtsloser Mr. Kolesnikow auftauchten. Manchmal folterten sie mich oder Jack, manchmal schleuderten sie mir einfach unverständliche Fragen entgegen, die ich nicht beantworten konnte. Mindestens einmal pro Nacht wachte ich schweißgebadet und mit klopfendem Herzen auf und tastete auf der Matratze neben mir nach Jack, der natürlich nicht da war.
Am sechsten Abend nach meiner Heimkehr, verschwand ich nach dem Abendessen nicht in meinem Zimmer, sondern blieb bei meinen Eltern im Salon. Noch am Nachmittag hatte Patricia mich beim Karten spielen dazu überredet. „Ich glaube, es würde ihnen viel bedeuten, mal wieder etwas Zeit mit dir zu verbringen und ich bin sicher, dir würde es auch guttun mal wieder einen Abend in der Gesellschaft anderer zuzubringen, statt dich in deinem Schlafzimmer einzuschließen und Trübsal zu blasen", hatte sie gesagt und ich hatte ihnen Worten Recht gegeben.
Meine Eltern schienen zwar etwas verwundert, als ich ihnen nach dem Dessert in den Salon folgte, wo Dad seinen Whiskey zu trinken pflegte und Mom etwas las oder nähte, doch sie schienen Angst zu haben, mich wieder zu verjagen, wenn sie ein zu großes Aufheben um diese Veränderung machten, also blieben sie stumm. Allerdings war ich mir sicher, dass ein erleichtertes Lächeln über Moms Züge huschte.
Ich setzte mich mit einem Buch in der Hand in den Sessel, der am nächsten zum Kamin stand und späte auf den kleinen Tisch daneben. Er war lehr. Wenn ich mich nicht irrte, war dies das Tischchen, von dem ich nur ein paar Tage zuvor die Porzellanfigur gepackt und an die Wand geschleudert hatte, aus lauter Wut auf Jack. Offenbar war sie noch nicht ersetzt worden und völlig unvermittelt kam in mir die Frage hoch, ob sie wohl teuer gewesen war. Bisher hatte mich noch niemand gefragt, ob ich für das zerschmetterte Schmuckstück, dessen Scherben inzwischen natürlich von einem gewissenhaften Hausmädchen entfernt worden waren, verantwortlich war und ich hatte auch nicht die Absicht jemanden darauf aufmerksam zu machen.
Nachdem ich es geschafft hatte, die Gedanken an das kaputte Porzellan zurückzudrängen, konzentrierte ich mich auf mein Buch und die knisternden Flammen im Kamin. Und tatsächlich stieg nach kurzer Zeit ein warmes, vertrautes Gefühl in mir auf. Es war wie damals, in den unbeschwerten Tagen, wie wir drei hier in diesem Raum saßen, alle ein wenig träge von dem üppigen Dinner und den Tag ausklingen ließen.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Verwundert blickten wir auf. Die Angestellten waren zu dieser Zeit für gewöhnlich unten in der Küche, um zu essen und nur ein paar Wachmänner waren noch auf, um die Türen zu bewachen. Doch nun klopfte es noch einmal. Diesmal energischer. „Kommen Sie herein", rief Dad und die Tür flog auf. Ein schwer atmender Wachmann trat herein. Schweiß stand ihm auf der Stirn, er war ganz blass und umklammerte einen großen, braunen Briefumschlag. „Das kam gerade an ... ein Bote hat es gebracht ... meinte es kommt von den Kolesnikows und Sie sollten es sich diesmal ganz genau überlegen, ob Sie seine Bitten noch einmal ignorieren wollen", erklärte er und seine Worte wurden immer wieder von einem Schnaufen unterbrochen. Bei dem Namen Kolesnikow stellten sich alle Härchen in meinem Nacken auf und ich war beinahe so schnell auf den Beinen, wie mein Vater, der dem Wächter den Umschlag abnahm und ihn aufriss. Ich stellte mich hinter ihn und sah über seine Schulter zu, wie er zuerst einen mit Zeitungsschnipseln beklebten Bogen Papier und dann ein Foto herauszog. Die Zeitungsschnipsel ergaben folgende Worte:
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A Girl Made Of Ivory
RomantikLos Angeles, 1956: Kathleen Edwards ist die Tochter eines millionenschweren Waffenproduzenten. Am Abend ihres achtzehnten Geburtstages hört sie mit, wie ihr Vater sich mit zwei ihr unbekannten Männern streitet. Schon am nächsten Morgen schicken ihre...