Am nächsten Tag hatten wir endlich mal wieder Zeit, in den Dschungel zu gehen. Die Frage war jetzt: Noch mal heimlich gehen oder meine Eltern fragen? Schlauer wäre es in jedem Fall gewesen, meine Eltern zu fragen. Wenn sie ja sagten, dann konnten sie hinterher nicht sauer sein. Aber wo blieb denn dann das Abenteuer?
Lea war sehr von dem Abenteuer-Argument überzeugt, aber ich wollte noch mehr als einmal in den Dschungel gehen, und dass ging nicht, wenn meine Eltern merken würden, dass wir schon mal heimlich dort waren. Es wurde eine lange und ausgiebige Diskussion, obwohl Lea nur ein Argument hatte. Doch sie schaffte es, dieses so zu drehen und zu wenden, dass ich mich am Ende zu einem Kompromiss breitschlagen ließ: Wir fragten zuerst meine Eltern, und wenn sie nein sagten, gingen wir heimlich. Eigentlich war das schon sehr gut für mich, denn ich war mir sicher, dass meine Eltern „ja“ sagen würden. Zumindest mein Vater, den wir fragen würden. Ich hielt es nicht für eine Möglichkeit, beide gleichzeitig oder gar meine Mutter zu fragen. Ich war ja nicht lebensmüde.
Nach dem Mittagessen klopfte ich an die Tür von meinen Eltern. Meine Mutter öffnete. Das hatte ich natürlich nicht bedacht, obwohl es ja eigentlich wahrscheinlich gewesen war. „Ist Dad da?“, fragte ich. „Nein, der isst unten, wieso?“ „Nicht so wichtig. Wieso ist er unten? „Er ist nicht unten, er isst unten.“ So richtig verstanden hatte ich es immer noch nicht, aber ich machte mich trotzdem auf den Weg nach unten. Als ich im Speisesaal ankam verstand ich endlich, was Mum gesagt hatte. Ich hatte schon wieder vergessen wie viel mein Vater immer aß. Ich stellte meine Frage mit Bedacht, nämlich so, dass man einfach automatisch „ja“ sagte, wenn man nicht nachdachte. Es war fast schon ein Reflex.
„Dad, wir gehen in den Dschungel, OK?“ Kommt, damit legte ich ihm die Antwort doch wirklich in den Mund. „Ja“, sagte mein Vater sofort, aber weil er sich seinen elterlichen Pflichten durchaus bewusst war, setzte er noch ein: „Passt auf euch auf“ hinzu. Das war genau so ein Standardsatz wie mein „Jahaa“, das darauf folgte. Beides war nicht ernst gemeint.
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Lea und ich liefen im Dschungel wieder den Weg entlang und gerieten wieder zu dem Schild mit der Aufschrift „ab hier nur noch mit Führung“ sowie dem kleinen Pfad. Einen kurzen Moment hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil Dad gesagt hatte, wir sollten auf uns aufpassen, aber dann rief ich mir wieder ins Gedächtnis, dass das ja nicht ernst gemeint war. Außerdem passte ich ja auf Lea auf und Lea passte auf mich auf. Das war schon unsere Regel im Kindergarten, und dann musste sie ja wichtig sein. Gab es da nicht so einen Merkspruch? Erst reden, dann laufen, dann aufeinander aufpassen?
Jedenfalls waren wir zu zweit viel sicherer als mit irgendeinem Fremdenführer. Der würde noch nicht einmal Deutsch sprechen können. Wenn dann mal Gefahr lauerte musste ich erst mal übersetzen und dann war ich höchst wahrscheinlich schon tot. Aber Lea würde direkt Deutsch sprechen. Es war in vielerlei Hinsicht sicherer. Außerdem müsste man bei einer Führung bestimmt so einen Vertrag unterzeichnen, mit dem dann versichert wurde, dass der Veranstalter keinerlei Haftung übernahm.
Und kannten wir den Weg ja auch. Immer dem Pfad entlang. Und es war ja auch nicht so, dass wir die einzigen waren, die hier weitergingen. Es gab bestimmt tausende Leute, die das Schild einfach übersahen. Genau! Eigentlich lohnte es sich gar nicht, so ein Schild überhaupt aufzustellen. Und eigentlich konnte ich mir es auch gar nicht mehr anders überlegen, Lea war schon vorgegangen.
Und ich wollte diesen Typen ja auch finden. Das war doch eigentlich der einzige Grund, warum ich in den Dschungel wollte. Weil ich wusste, dass ich ihn für mein weiteres Leben brauchen werde. Dass ich ohne ihn nicht Leben werden könne. Wir waren auf der „Ilha do Amor“, der Insel der Liebe. Hier musste ich ja meine große Liebe finden, oder? Und sowohl meine kleine als auch meine große Schwester hatten sich in einen Brasilianer verliebt. Es war doch eigentlich schon Schicksal. Oh Gott, langsam wurde ich echt wie Mena.
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Während wir den Pfad entlang liefen, war ich mal wieder fasziniert von den Bäumen. Jedenfalls bis wir wieder an die Baumstamm-Brücke kamen. Dort merkte ich, dass die langen, glatten Stämme, die ich gerade noch so schön fand, eigentlich ein gewaltiger Nachteil für mich waren.
Denn obwohl es heute etwas trockener war, war der Baumstamm trotzdem feucht. Warum gab es hier denn keine normalen Brücken? Solche schönen, breiten, mit hohen Geländern.
„Gehst du noch mal?“, fragte Lea. „Hm“. Irgendwie reizte es mich schon, noch mal über den Baumstamm zu gehen und die unbetastete Natur des Dschungels auf der anderen Seite zu erforschen. (und den Jungen zu suchen, aber das war nebensächlich) Aber ich konnte Lea nicht einfach alleine lassen. „Du musst noch mal rübergehen. Es wär so cool wenn du einen Freund hättest. Du findest ihn ganz bestimmt!“ Das konnte schon sein, aber „Und ich komm mit!“ „Nein!“, rief ich, vielleicht ein bisschen zu hysterisch. „Du musst entweder zurückgehen oder ich mach das nicht! Du kannst da nicht rüberklettern! Dann stirbst du! Ich wär ja selber fast runtergefallen.“ Es war ein bisschen hysterisch. Ich gebe es ja zu. Ein bisschen. „Na gut“, sagte Lea „Dann gehst du rüber und ich geh zurück.“ Ich hätte wissen müssen, dass sie sich nicht an die Abmachung hält! Lea hält sich nie an Regeln und Abmachungen. Aber dazu später mehr. Jetzt jedenfalls sah ich mir den Baumstamm noch mal an. Irgendwie hatte ich ihn kürzer in Erinnerung. Und den Fluss nicht so breit. Und vor allem auch nicht so tief. Und nicht mit so schneller Strömung. Und nicht mit so vielen Stromschnellen. Ich hatte kein besonders gutes Kurzzeitgedächtnis. Aber das war eigentlich ganz gut. Dann hatte ich morgen bestimmt schon wieder vergessen, wie gefährlich dieser Fluss aussah. Das dachte ich jedenfalls in diesem Moment, als ich mit beiden Füßen gleichzeitig auf dem Baumstamm aufstand. Ich hatte das Gefühl, ich würde noch langsamer vorankommen als das letzte Mal. Aber ich musste mich ja auch schon mal daran gewöhnen. Wenn ich in nächster Zeit einen Freund, der hier wohnte, haben würde, müsste ich das jeden Tag machen. Um nicht auf dem Takt zu kommen summte ich „I like to move it, move it!“ im Kopf, aber es war ein bisschen zu schnell, ich rutschte zweimal fast ab und da stieg ich lieber zu „People help the people“ um. Mit Birdys Stimme im Ohr schaffte ich es einigermaßen gut bis zur anderen Seite. Erleichtert sprang ich vom Baumstamm runter und guckte mich um. Der Dschungel sah im Gegenteil zu Fluss noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung gehabt hatte. Kein Weg weit und breit, stattdessen meterhohe Bäume und bunte Blumen. Ich drehte mich um, um Lea zu sagen, dass alles ok war. Leider war nicht alles ok. Denn Lea kniete in der Mitte von dem Baumstamm und versuchte, irgendwie in der Balance zu bleiben. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben, sie hatte Schweißperlen auf der Stirn. Sie würde jeden Augenblick runterfallen! „Wieso bist du mir hinterhergegangen??“, schrie ich. „Weil ich,…“, setzte Lea an, aber ich schnitt ihr das Wort ab: „Guck dir doch mal den Fluss an! Ich hab 10 Jahre Übung, aber du nicht! Du stirbst wenn du runter fällst!!!“ Nein, dieses mal war ich nicht hysterisch. Dieses Mal verhielt ich mich der Situation entsprechend. „Mea, ich,…Scheisse!“ „Was ist?“, Lea antwortete mir nicht, stattdessen hockte sie sich erst hin und dann stand sie auf. Na gut. Dann starb sie eben. Wenn sie nicht auf mich hören wollte. Da war sie doch selbst Schuld!
Lea murmelte etwas. Dann machte sie ein paar komische Handbewegungen. Es sah fast ein bisschen so aus, als würde sie meditieren. Unter anderen Umständen hätte ich bestimmt ziemlich gelacht. „HÖR SOFORT DAMIT AUF!“, schrie ich stattdessen. Hysterisch war ich aber immer noch nicht. Nur wütend. Und ängstlich. „Ok, Mea“, sagte Lea ganz ruhig und gelassen „Sei jetzt bitte leise. Und dreh dich nicht um. Und bitte, schrei nicht wieder“
Ich bekam plötzlich schreckliche Angst davor, was dort hinter mir lauern könnte. Ich weiß, das war natürlich, nach dem, was Lea gesagt hatte. Ich wollte mich nicht umdrehen. Ich wollte nicht hier im Dschungel sein. Ich wollte zurück nach Deutschland, ins schöne, kalte, Berlin. Aber Wünsche konnten sich nicht immer erfüllen. Ich musste sehen, weshalb Lea aufgestanden war und sich damit in Lebensgefahr gebracht hatte. Ich konnte nicht wegsehen, auch wenn dass das einzig Sinnvolle gewesen wäre. Auf alles gefasst drehte ich mich langsam um.
*
Ich schrie nicht. Tränen stiegen mir in die Augen und ich zitterte am ganzen Leib. Ich sah nur dieses Tier. Ich hätte mich nicht umdrehen dürfen. Ich hätte auf Lea hören müssen. Ein Gorilla, riesig groß und bedrohlich, starrte mich finster an. Wieso musste mir ausgerechnet ein Gorilla begegnen? Bei ihnen war es nicht so wie bei anderen Affen. Vor denen hatte ich einfach nur Angst, wie andere Leute Angst vor Spinnen hatten. Aber bei Gorillas war das anders. Ich hatte eine Gorilla-Phobie. Es klingt (im wahrsten Sinne des Wortes) affig, aber es war wirklich so. Ich war nicht mehr in der Lage, mich zu bewegen, zu sprechen. Ich schloss die Augen, aber ich sah ihn trotzdem noch vor mir. Mir wurde heiß und kalt. Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Ich durfte nicht ohnmächtig werden. Nicht jetzt. „Ok“, Leas Stimme drang nur gedämpft an mein Ohr. „Es ist nur ein Gorilla. Er tut dir nichts.“ Ich wusste es. Ich wusste es genau. Aber ich konnte meine Angst nicht kontrollieren. „Es kann dir doch gar nichts passieren. Bitte Mea, lass mich nicht hier alleine.“ Lea wimmerte. Ich hatte sie noch nie weinen hören. „Bitte, es ist keine Gefahr. Er-“, Lea konnte ihren Satz nicht vollenden. Ich hörte nicht mehr, was der Gorilla war. Alles was ich hörte war ein kurzer, spitzer Schrei und dann das schreckliche Geräusch, wenn etwas Hartes auf Wasser aufkam.
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Vollkommen planlos
HumorUrlaub im fünf Sterne Hotel gewonnen? 30 Grad an jedem Tag? Tollen Typ kennen gelernt? Aber was macht man im fünf Sterne Hotel wenn man nicht mal das Buffet findet? Und wie kann man die dreißig Grad genießen wenn man schwimmt wie eine Schildkröte? U...