Macapá!

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"Mea, wach auf! Das musst du unbedingt sehen! Wir landen gleich in Brasilien!“, schrie Sissi mir ins Ohr. Mein Gott, dann landeten wir eben in Brasilien. Musste deswegen mein Trommelfell platzen (trotz der Oropax!). Es  war ja nicht mal eine große Stadt in Brasilien, die sich über unsere Anwesenheit freuen durfte, sondern nur ein kleines Halb-Dorf direkt am Äquator nahmen Macapá. Ich hätte die Landung gerne verschlafen. Sie könnte so ähnlich werden wie der Start. Trotzdem war ich noch ziemlich müde, viel zu müde um mich aufzuregen. „Bitte schnallen sie sich in ihren Sitzen an. Wir landen in Macapá, Brasilien“, hallte es durch das Flugzeug.

Ja, die Landung, wie schon erwähnt. Sie war schrecklich. Diesmal war ich wirklich kurz davor, zu kotzen. Aber ich unterdrückte es. Wie hätte ich vor Scham im Boden versinken sollen? Wir waren in einem Flugzeug.

„Wir erreichen unser Reiseziel. Sao Paola, Brasilien. Wir wünschen ihnen einen schönen Aufenthalt“, tönte es durch die Lautsprecher.

*

Beim Kofferholen brauchten wir eine halbe Stunde. Wegen Mena, mal wieder.

Wow, Brasilien war so anders. Alles war so bunt und groß und irgendwie… nicht Deutsch. Genau, es war nicht Deutsch! Hier gab es kein einziges Wort auf Deutsch. Alles Portugiesisch. Oder Englisch auch manchmal, aber gar kein Deutsch. Ich hätte eigentlich darauf vorbereitet sein müssen.

Auf einmal kam ein Typ, der rote Badeshorts mit Hawaiblumen und ein gelbes Surfer T-Shirt trug, auf uns zu. Er hatte dunkle Haut und Dreadlocks. Er sah aus wie der verrückte Konkurrent in einem Surferfilm. Der, der dann am Ende der Hauptperson das Leben rettet. Leider war er das genaue Gegenteil. Er kam direkt auf mich zu und sagte was auf Portugiesisch. Das war ja an sich noch nicht so schlimm. Aber dann griff er mir an den Arsch. Ich wollte ihn dahin treten, wo es am meisten wehtut, traf aber leider nur seinen Bauch. Mist! Ich ärgerte mich fast zu Tode. Ich meine, von so einem hätte ich mir noch vor einer Minute das Leben retten lassen! Er, der Pograpscher, fluchte in seiner Muttersprache und verließ mich.

Das Letzte was er mir zurief war „foda cadela“. Aber übersetzt euch das selber. Was sollte ich jetzt machen? Die Deutschen übersahen mich und die Brasilianer die,… die waren das andere Extrem.

Ich überlegte, Nonne zu werden. Ja ich weiß, es klingt komisch, aber eigentlich war es eine gute Idee.

Ich würde einfach ins Kloster gehen und so lange verschwinden, bis ich alt und runzelig bin. Dann findet mich sowieso keiner mehr attraktiv.

Andererseits, wenn man es genau betrachtet, nur alt. Bis dahin war die Anti-Falten-Creme-Entwicklung bestimmt schon weiter fortgeschritten. Und ohne Runzeln war man attraktiv. Also, wozu der ganze Aufwand? Und außerdem hatte ich keine Lust, um mitten in der Nacht aufzustehen, um dann den ganzen Tag zu beten und zu verarmen, damit sich irgendwelche Bischöfe für Millionen von Euro Badewannen kaufen können. Dann doch lieber ein paar Pograpscher.

„Unser nächster Flug kommt erst um eins. Wir haben also noch ein bisschen Zeit uns Macapá anzugucken“, verkündete Mum. Ich wusste gar nicht, ob ich das überhaupt wollte. Macapá war ein Zehntel von Berlin.

„Wie spät ist es denn jetzt?“, fragte Lea. Ich schaute auf meine Uhr „Zwanzig nach drei“, sagte ich. „Mea, deine Uhr ist noch auf Deutscher Zeit“, stellte Mena fest. Natürlich war meine Uhr noch auf deutscher Zeit weil,… ich wusste es nicht mehr. „Also zwanzig nach neun“, stellte Lea richtig. „Können Lea, Mea und ich alleine gehen?“, bat Mena. Mit Dackelblick. Sie konnte ihn fast genauso gut wie Sissi. Aber leider nur fast. „Ich glaube du kennst meine Antwort!“, sagte Mum streng. „Wieso denn nicht?“, fragte meine große Schwester. „Ihr seid drei junge Mädchen, ihr kennt das Land nicht, ihr sprecht die Sprache nicht, es ist Nacht und in Brasilien laufen noch viel mehr komische Typen als in Deutschland rum“, erklärte Mum. Oh ja. Das haben wir ja gerade schon bemerkt. Sie war nicht mehr umzustimmen. Wir hatten auch nichts als Gegenargument. Bis auf Menas: „Ich bin achtzehn, ich kann machen, was ich will.“ Das bewirkte, das Mena alleine durch Macapá ging, wir aber neben meinen Eltern am Händchen laufen mussten. Na gut, am Händchen nicht. Aber neben meinen Eltern.

*

Macapá war trotzdem toll! Echt richtig, richtig super. Nur ein bisschen zu voll, fand ich. Und nichts, was man wirklich machen könnte. Aber ansonsten war es echt super. Zum Beispiel da, ein wunderschönes Hotel. Die Fassade bröckelte und nur noch ein Buchstabe von dem Leuchtschriftzug leuchtete, aber ansonsten war es toll. Da vor saßen einige Straßenkinder. Das war auch nicht so toll. Sie taten mir sehr leid. Vor allen Dingen ein kleiner Junge, der alleine in einer Ecke schlief. Er war erst sechs oder sieben Jahre alt. Bestimmt hatte er keine Eltern mehr. Ob er hier Freunde hatte? Wie schaffte er es überhaupt, so zu überleben? Würde er noch lange überleben? Ich merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Lea legte einen Arm um mich. Dann blickte ich mich um. Meine Eltern wirkten auch traurig.

Ich musste etwas machen. Irgendetwas. Mir fiel zwar im Moment nichts ein, aber ich zählte auf meine plötzlichen Ideen. Und da war sie auch schon: Ich holte meine letzte Wasserflasche aus der Tasche und legte sie neben den Kleinen. Dann merkte ich, dass ich noch eine uralte Jacke in der Handtasche hatte. Ja, ich hatte sie nicht bemerkt und ich wusste auch nicht wie sie dorthin gekommen war. Meine Handtasche war groß. Sehr groß.

Jedenfalls deckte ich den Kleinen zu mit meiner Jacke. Es war zwar unnötig, weil man selbst jetzt am Abend noch schwitzte, und sah ziemlich bescheuert aus, weil die Jacke rosa war, aber so hatte er wenigstens etwas für den Winter.

Erst ein paar Stunden später fiel mir ein, dass es am Äquator ja gar keine Jahreszeiten gab.

Lea fand noch eine Packung Cookies, die gab sie dem Jungen auch. Als wir wieder gingen, war ich einigermaßen zufrieden. Der Junge tat mir zwar immer noch Leid und ich hatte Angst um ihn, aber ich hatte das Gefühl, etwas getan zu haben.

*

Am Flughafen gab es ein kleines Problem. Aber wirklich nur ein klitzekleines, eigentlich kaum der Rede wert. Wir wussten nur nicht, wo unser Flugzeug war.

Aber das war ja nicht so schlimm. Irgendwie würden wir schon auf die Insel kommen. Irgendwie bestimmt. Bitte, lieber Gott! Der erste Fehler lag schon darin, dass Mum drinnen suchte. Es war unwahrscheinlich, dass es ein Flugzeug IN einer Flughafenhalle gab. Aber raus ging nicht. Doch, da war ein kleiner Seitenausgang. Ich lief hin und versuchte, die Klinke runterzudrücken. Und die Tür ging auf. Ok, das war unwahrscheinlich gewesen. Eigentlich beinahe ein Wunder. Wenn man das Notausgangsschild über der Tür mal unbeachtet ließ.

Ich winkte meiner Familie und Lea zu und zusammen betraten wir das Außengelände des Flughafens. Ich war mir ziemlich sicher, dass das, was wir hier gerade taten, nicht erlaubt war. Aber es brachte auch nicht viel. Ich zählte mit, wir kamen an ein und demselben Flugzeug vier Mal vorbei. Ich schaute auf meine Uhr. Wir hatten noch ca. 5 Minuten. Plötzlich bog Mena rechts ab. Mum war der festen Überzeugung, dass es da entlang vollkommen falsch war, aber Menas Orientierung war um einiges besser. Wir kamen auf einen Platz, auf dem ein rotes Wasserflugzeug stand. Ich wollte wieder umdrehen, als Mum plötzlich sagte: „Genau, das müsste es sein. Ich sagte doch, hier lang ist richtig.“

Ich überlegte, wie viel genau ich kotzen würde, wenn wir mit so einem Ding flogen. Also auch, wie weit Lea von mir wegsitzen musste. Konnte ich nicht hierbleiben? Hier in der schönen Stadt Macapá?

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