Blink

110 9 0
                                    

Ich fasse all meinen Mut zusammen und steige mit stolz gerecktem Kinn die Gangway hinauf. Als ich oben angekommen bin, verschlägt es mir beinahe die Sprache. Keine Wachen halten mich auf, so wie ich es erwartet habe. Das Deck scheint seit meinem letzten Aufenthalt hier nur noch verdreckter und chaotischer geworden zu sein. Zerfetzte Taue liegen herum, kaputte Waffen, ein zerrissenes Netz und hier und da haben sich dunkle Flecken gebildet. Dunkelrote Flecken?! Ist das Blut?! Alle Piraten stehen in einem Kreis versammelt und schauen hinunter auf den Boden. Ich habe da so ein ungutes Gefühl, dass ich eigentlich genau weiß, was oder ehr wer, da vor ihnen liegt.

Ihr Lachen ist so laut, dass ich mich unbemerkt aufs Deck schleichen kann. Vorsichtig bücke ich mich, um eine leere Flasche vom Boden auf zu heben. Vielleicht kann sie mir als Waffe dienen... Die anderen Sachen liegen einfach zu nah an den Piraten und so weit wage ich mich noch nicht vor.  Was nun? Erst mal sollte ich die Lage checken, also klettere ich an den zusammen geknüpften Seilen hinauf in die Takelage. Das ist natürlich nicht besonders einfach mit nur einer freien Hand, also stecke ich die Flasche umgedreht mit dem Hals nach unten in meinen Gürtel.

Der Weg nach oben ist ziemlich wackelig, aber wenigstens bin ich aufgrund der vielen Flüge mit Peter einigermaßen schwindelfrei. Angespannt und aufgeregt schaffe ich es kaum, zu atmen, obwohl die ganze Kletterei ziemlich anstrengend ist, vor Allem nach meinem langen Lauf! Twinkle fliegt neben mir, zum Glück ist sie still! Die Piraten würden ihr Geklimper zwar nicht hören, da es um einiges leiser, als ihre grölenden Stimmen ist, aber sicher ist sicher! Von der Seite kann ich sehen, wie sie mir immer wieder starre Blicke zuwirft. Sie hat Angst! Um mich!

Ich kann die Piraten nun besser erkennen. Allesamt unrasiert, schmutzig und barfuß. Die kaputte verdreckte Kleidung scheint sie nicht zu stören. Hier und da blitzt auch mal ein Goldzahn auf, andere schmücken ihre Haut mit den abscheulichsten Tätowierungen. Von ihnen dringt unablässig heißer, stinkender Atem zu mir auf. Es riecht nach gammligem Fisch und Erbrochenem, sodass sich mir beinahe der Magen umdreht. Doch dann sehe ich noch etwas viel abscheulicheres, ihren Kapitän!

Er ist ein hochgewachsener Mann mit fettigem, schwarzen Haaren, die in verfilzten Strähnen durch die Luft wirbeln, wenn er sich bewegt. Es folgen ebenso schwarze buschige Augenbrauen und eine riesige Hakennase, die in einem großen an den Seiten gezwirbeltem Schnauzbart endet. Im Sonnenlicht blitzt der Haken auf, der aus seinem Ärmel ragt, dort, wo bei anderen Menschen die linke Hand sitzt.

Aber das alles ist nichts gegen den Anblick, der sich mir nun bietet. In der Mitte von ihnen liegt Peter. Der starke mutige Peter, der niemals aufgeben würde, auch jetzt nicht. Noch nicht einmal jetzt! Es raubt mir den Atem, als ich sehe, was sie mit ihm angestellt haben. Man hat mehrere Pfähle auf dem Deck angebracht, die den mit Seilen festgebundenen Jungen zwingen, auf dem Boden liegen zu bleiben, während die Piraten ihn verhöhnen, bespucken, knuffen und mit ihren Messern verwunden. Ich muss mir mit einer Hand den Mund zuhalten, um nicht laut auf zu schreien. 

Peters Arme und Beine sind bereits übersät von blutenden Wunden und blauen Flecken. Trotzdem zeigt er kein bisschen noch so kleine Angst oder Schmerz. Nur Hass ist in seinen Augen zu lesen. Blanker Hass und Abscheu gegen den Mann, dessen Haken gerade mit seinen Haaren spielt! Hook! Seine Augen scheinen wie zwei Spiegel zu sein, denn auch aus ihnen blitzt Hass und Verachtung ihm entgegen, aber auch Triumph.

Da spüre ich plötzlich etwas an meinem Bauch. Erschrocken blicke ich auf die Stelle und denke schon, einer der Piraten hätte mich entdeckt und angeschossen, doch dem ist nicht so. Aber es ist fast genau so schlimm! Die Flasche hat sich aus meinem Gürtel gelöst und fällt in einem halsbrecherischen Tempo zu Boden, wo sie auf den hölzernen Planken zerberstet.

Augenblicklich ist alles still und mindesten zwei Dutzend Blicke liegen auf mir, doch ich kann nur einen ansehen, kann nur in zwei Augen schauen und meinen Blick nicht abwenden. Er tut es mir gleich. Stolz und Trotz in Peters Augen sind verschwunden, stattdessen sehe ich in eine unendliche Leere und Verzweiflung, die meine Brust zusammen schnürt und mein Herz beinahe zerdrückt. Was habe ich nur getan?!


Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt