2. Mai 2013
Bei Ashton wieder in der Wohnung nahm ich sofort die Truhe in die Hand und holte aus meiner Hosentasche die Kette. Tief atmete ich durch und öffnete die Truhe. In dieser befanden sich zwei Briefe und eine Kette. Zuerst nahm ich die Briefe und sah auf einen der Umschläge Ashtons Namen geschrieben. Der Lockenkopf saß neben mir, sodass ich ihm direkt seinen Brief geben konnte. Unschlüssig sah ich meinen an.
Taylor Keith
Ich starrte einfach nur auf meinen Namen. Die Schrift meiner Mutter war geschwungen und dennoch so klar lesbar. Tränen drohten meinen Wangen hinunter zu fließen, doch ich blieb stark. Es würden die geschriebenen Wörter meiner Mutter zu mir sein. Mit zitternden Händen öffnete ich dann den Briefumschlag. Nervöser wurde ich und zugleich überrumpelte mich die Angst. Vorsichtig zog ich den Brief heraus und öffnete diesen. Zögernd begann ich zu lesen. Die Neugier reagierte über meine Angst.
Liebe Taylor,
Schon seit langem war mir bewusst, dass ich sterben würde. Ein guter Freund hatte mir dies gesagt, doch ich konnte dir nie die Wahrheit sagen. Ich fand du solltest immer ein normales Leben genießen dürfen, egal was du wirklich bist, doch hier kommt die Wahrheit, meine Süße.
Du bist kein Mensch. Du bist ein Engel. Vielleicht hört es sich seltsam an im ersten Augenblick, dennoch hast du dieses Blut in dir, genauso wie dein Vater und ich. Wie der Vater deines Vaters und meine Mutter.
Tief atmete ich durch und nahm Ashtons Hand. Unsere Blicke begegneten sich und seine haselnussbraunen Augen musterten mich.
„Was ist los?", fragte er und strich eine Träne aus meinem Gesicht.
„Nicht, ich muss weiterlesen", antwortete ich mit zittriger Stimme.
Viele hätten Angst vor dir, doch du bist ganz normal. Du bist wie dein Vater und ich es waren. Nichts ist gefährlich an dir.
Ich weiß, dass auf deiner Schule ein Junge mit dem Namen Ashton Irwin geht. Such ihn auf. Er wird dir vieles erklären können. Ihr Beiden sollt beste Freunde werden, jedoch nicht mehr. Er wird es dir erklären können.
Frag ihm nach den Wächtern. Ich hoffe, du wirst eines Tages meinen Platz einnehmen können. Deine Gaben, die dir geschenkt wurden sind Grund genug. Du bist stark und mächtig. Das warst du als kleines Baby. Natürlich kannst du dich nicht daran erinnern, aber ich weiß noch, wie alle mich beneidet haben, weil sie nicht wussten, wer du wirklich bist. Dazu kann dir Ashton mehr erzählen. Trainier für die Wächter, dein Platz gehört dahin.
Es tut mir so leid, Taylor. Doch ich wollte immer, dass du normal aufwächst und dass Jim nie etwas erfährt. Sprich ihn also nicht darauf an.
In Liebe,
Deine Mutter x
„Hast du nicht gesagt, dass bei Engeln die Augen leuchten, sobald sie dieses Getränk getrunken haben?", fragte ich ihn und schluckte.
„Ja."
„Aber mein Vater war bewusstlos", stellte ich fest und schüttelte den Kopf.
„Was ist los?", hakte er nach und drückte meine Hand.
„Meine Mum schreibt hier, dass mein Vater und sie Engel waren und alle Angst vor mir hätten. Ashton, kann es sein-"
„Nein", unterbrach er mich und schüttelte den Kopf. „Du bist nicht der Tyrann."
„Woher willst du es wissen? Du glaubst doch so sehr an diese Legende."
„Weil ich es weiß. Glaub es mir. Deine Mutter hätte dir gar nicht verheimlichen können, was du bist, wenn du der Tyrann wärst."
„Wieso?"
„Der Tyrann kann seine Flügel nie verstecken. Seit Geburt an sind seine Flügel sichtbar. Von keinen von uns ist dies der Fall", erklärte er.
„Aber wenn meine Eltern beide Engel sind-"
„Ist das Zuhause bei dir nicht dein leiblicher Vater", unterbrach er mich erneut. Nickend stand ich auf und ging ins Schlafzimmer, wo ich meine Sporttasche nahm. Tief atmete ich durch und sah Ashton an.
„Ich lebte die ganze Zeit in einer Lüge", stellte ich fest und schüttelte den Kopf. „Trainier mich."
„Los geht's."
*/*
„Du wirst das schaffen", meinte Ashton, als wir die Treppen hochgingen.
„Nein, ich bin ein hoffnungsloser Fall", meinte ich und lief direkt zur Bar. Ohne zu fragen gab Jase mir einen Drink. Sofort kippte ich mir diesen hinunter und bemerkte dann den Typen neben mir. Verwundert musterte ich und kippte gleich den zweiten Drink hinunter.
„Bastian", lächelte ich und küsste seine Wange. „Lange nicht gesehen."
„Ja, etwas zu lange", nickte er und musterte mich. „Siehst gut aus."
„Danke, du ebenfalls. Was hat dich hierhin geschlagen?" Der dritte Drink wurde von mir getrunken, solange ich Bastian ansah.
„Hab gehört, es soll hier lustig sein", meinte er.
„Können wir rausgehen?" Bastian nickte. Draußen sahen wir uns eine lange Zeit an, ehe ich mir eine Zigarette anzündete.
„Tay?", hakte Bastian nach und legte eine Hand auf meine Schulter. „Was ist los?"
„Ich weiß es nicht", seufzte ich und blickte ihm in die Augen. „Ich dachte ich hätte mehr Mut."
„Sag, was los ist." Einen weiteren Zug nahm ich von meiner Zigarette und blickte immer noch zu Bastian.
„Fühlst du immer noch etwas für mich?", fragte ich nach und blickte auf den Boden.
„Ja."
„Dann lass es uns probieren", meinte ich und schaute Bastian wieder an. Ein Grinsen umspielte seine Lippen. Ich hatte im Gefühl, beobachtet zu werden, doch es war egal.
*/*
30. März 1915
Im Fluss wusch er sich das Blut von den Händen. Die Szenen, wie Jeffrey seine Mutter umgebracht hatte, hatten sich in ihn eingebrannt.
„Ashton?", rief sein Kumpel. Ashton drehte sich um und sah den dunkelbraunhaarigen an.
„Ja, Calum?"
„Wir müssen weiter." Ashton nickte und dachte an seine letzte Vision. Sie sagte so vieles aus und er wusste, er musste die Vision passieren lassen. Calums braune Augen sahen ihn an.
„Weißt du schon wer das Mädchen ist?"
„Nein, aber ich weiß, dass sie die Mutter meiner Kinder sein wird", antwortete Ashton und machte sich zusammen mit Calum auf den Weg zur nächsten Stadt.