Er streift ohne einen Plan durch die alten Straßen von Potsdam. Jakub weiß nicht, wo genau er sich befindet – die Wohnhäuser wirken vernachlässigt, die Straßenränder sind teilweise von Müll und Schrott übersät. Auf der anderen Seite geht eine Gruppe von Heranwachsenden. Die schnelle Musik dröhnt aus einer Box, sie reden viel zu laut miteinander oder lachen übertrieben. Er lässt den Blick umherschweifen und nimmt die Umgebung bewusst intensiver wahr. Ring um ihn säumen Plattenbauten die Landschaft. Junge Bäume wiegen sich im sanften Wind. Am Straßenrand haben die Bewohner ihre verhältnismäßig alten Fahrzeuge abgestellt. In den meisten Wohnungen glitzern Lichter, wenngleich es weit nach elf Uhr ist.
Die Musik wird erneut lauter. Dieses Mal stammt sie aus einer dieser dicht bebauten Blöcke. Jakub schiebt die Kapuze auf seinen Kopf. Der Rausch ist verklungen, nachdem Jakub in seinem provisorischen Versteck einen kurzen Schwächeanfall erlitten hat. Die Wirkung ist stärker als sonst gewesen. Sein Körper hat ihn nicht gänzlich verarbeiten können. Er weiß nicht, wo er hin soll. Zurückgehen zu Sarah wird er nicht: Jakub fürchtet, dass er sie schlimmer verletzen könnte. Ungern will er sich vorstellen, wie weit er vorangeschritten wäre, hätte Sarah weiterhin auf ihn eingeredet. Er hätte sie erwürgen können.
Ein Schauder rennt den Rücken herab, und Jakub nähert sich dem Straßenrand. Kein Auto fährt vorbei. Er huscht über den Asphalt und schlängelt sich zwischen die Fahrzeuge. Er bleibt stehen, denkt nach. Er könnte versuchen, zumindest in den Hausflur zu gelangen, um die Nacht dort zu verbringen. Wäre da nicht dieser Hunger, der ihn seit einigen Stunden plagt. Jakub ignoriert es so gut es geht und nähert sich einer Eingangstür. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkt sich, als er sich wieder umsieht. Die Blöcke reihen nahtlos aneinander, bilden saubere rechte Winkel und verlaufen in eine senkrechte Richtung. An einem Fenster flattern zwei große Deutschlandflaggen. Er runzelt die Stirn, macht sich nichts daraus.
Vor der neun hält der Pole inne und lehnt sich an das gusseiserne Geländer. Bei Nummer acht hocken fünf Jugendliche vor der Haustür und trinken aus Glasflaschen. Die flackernde Lampe an der Fassade lässt nicht die Sorte erkennen. Jakub schaut zu ihnen, während er sich einen Plan schmiedet. Er könnte auch warten, bis sie in ihren Aufzug gehen, sodass Jakub sich unter ihnen mischen kann, um zumindest in die Kellerräume gelangen zu können. Vielleicht wohnen sie nicht da, sondern haben diesen Platz willkürlich ausgewählt. Jakub wartet zunächst ab.
Sie lachen, beleidigen sich untereinander und deuten Schläge an, was zu Spötteleien der anderen führt. Der Pole zückt sein Handy hervor, wirft einen flüchtigen Blick auf die Leiste. Keine Nachrichten, keine Anrufe. Ein gemischtes Gefühl durchwühlt ihn, und er steckt das Gerät in die Hosentasche. Das getrocknete Blut an den Händen hat er abgewaschen, gleich nachdem er die kleine Familie aus dem Leben geholt hat. Er hat sich viel Zeit gelassen, bevor er den Wagen entwendet hat. Es hat sich herausgestellt, dass das Mädchen nicht vierzehn, sondern elf Jahre alt gewesen ist. Da hat ein kleines Plüschtier auf der Rückbank gelegen.
Eine Woche. Dann kann ich weg. So lange muss ich mich draußen umher schlagen. Allein ist immer noch etwas anderes, als wenn ich eine Gang habe. Da hat man auf andere zurückgreifen können. Jetzt geht's leider nicht mehr. Jakub schätzt die Tatsache, dass er nicht aus weichem Holz geschnitzt worden ist. Ach, irgendwie wird's schon gehen. Er schiebt beide Hände in die Jackentaschen und behält sie im Blick. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, steht es ziemlich schlecht mit mir. Ich meine, ich bin mit Gewalt großgeworden, die Drogen haben mich durch die Pubertät begleitet und mich dementsprechend geformt. Gut, ich habe einen Schulabschluss, aber wird der überhaupt hier anerkannt? Er schnaubt leise. Kaum zu glauben, worüber man anfängt nachzudenken, sobald man allein ist.
Jakub stößt sich von dem Geländer ab und betrachtet das lange Klingelschild. Überwiegend deutsche Nachnamen. Ein paar polnisch klingende und südländische. Er wählt einen willkürlichen Namen aus, klingelt. Er zuckt ein wenig nach hinten. Die Leitung knackt, dann bellt ein Hund. Eine rauchige und tiefe Frauenstimme, die mürrisch erfahren will, wer die Klingel gedrückt habe und was das Anliegen sei.
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Ein Atemzug entfernt II
Teen Fiction„Was ist schon gut und was böse? Das ist scheißegal; letztendlich hast du dich eh verpflichtet." Jakub Zsaskaski ist auf der Flucht. Ein Wettlauf mit dem Tod. Jedes Hindernis könnte sein letztes Stündlein bedeuten. Und während des Wettlaufs stellt e...