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Er hat sich dazu gezwungen, die Starre zu überwinden, um von diesem Platz zu verschwinden. Das Herz hat bis zum Hals geschlagen. Die Kehle ist völlig ausgetrocknet gewesen, und das Zittern ist längst nicht verklungen. Es ist ihm schwergefallen, in das Mehrfamilienhaus zu gelangen, zumal die Gedanken stets zu Kaden abgedriftet sind, der ihn anscheinend beobachtet. Und sich in seiner akuten Nähe befindet.

Jakub hat ständig einen Blick hinter sich geworfen, immer durch die Angst begleitet, er würde mit jeder Sekunde hinter ihm stehen. So, wie er es bei Jurij getan hat, bevor er ihn kaltblütig erschossen hat. Ein dicker Kloß hat sich in seiner Kehle gebildet – Jakub schluckt laut, bevor er wieder nach vorn sieht. Den Lichtschalter hat er bewusst nicht betätigt. Die Furcht sitzt ihm zu sehr im Nacken. Sein Glück ist es, dass er sich in der Dunkelheit zurecht findet. Fremde Umgebungen sind dabei ein Willkommensgeschenk. Nur einmal ist Jakub gestolpert, hat sich jedoch rasch fangen können.

Er schreitet auf leisen Sohlen zum Namensschild. Ihm kommt es vor, als würde er viel zu laut unterwegs sein. Die Schritte schallen förmlich von den nackten Wänden wider. Seine Atmung ist nahezu lautlos. Jakub traut sich nicht, die Taschenlampe seines Handys anzuschalten. Er hofft inständig, die richtige Wohnung erwischt zu haben.

Das Aufbrechen verläuft mit etwas Mühe, jedoch seinen Erwartungen entsprechend. Das Holz ist an einigen Stellen abgebrochen oder zersplittert. Die linke Hand sendet Schmerzen aus. Jakub schüttelt sie leicht. Kein Blut rinnt aus einer möglichen aufgerissenen Stelle. Erleichterung spiegelt sich im Gesicht wider. Jakub weiß, dass Sarah und Oliver nichts mithören – Kaden verbreitet bei solchen Dingen nie Lügen. Der Pole betritt wachsam die Wohnung.

Überall Dunkelheit. Ein schwacher Duft nach verbrannten Kerzen liegt in der Luft. Die beschädigte Tür wird angelehnt. Er behält sie im Seitenblick. Der Flur ist ziemlich schmal; zwei schlanke Personen könnten höchstens aneinander vorbeigehen. Rechts von ihm eine geschlossene Tür mit einem eingefassten Milchglas. Er geht weiter, sieht nach links, direkt zum Kinderzimmer von Oliver. Jegliche Sinne werden bis auf Maximum geschärft, eine entschlossene Haltung wird eingenommen. Jakub nähert sich der von selbst gezeichneten Bildern übersäten Tür und öffnet sie. Sie karrt leise.

Keine Frage. Kaden hat sich in diesem Zimmer aufgehalten. Kalter Zigarettenrauch klebt an dem Mobiliar. Jakub verzieht angeekelt das Gesicht. Scheinbar hat Kaden wieder angefangen zu rauchen. Der Pole versucht so gut es geht, den Geruch auszublenden.

Oliver schläft tief und fest. Irgendein Kuscheltier hat er dabei fest an sich gedrückt. Die Decke ist zu der Brust herunter geschoben worden, sodass ein buntes Oberteil sichtbar wird. Jakub sieht ihn an, aber nicht lange. Ihm ist das leere Glas auf dem Nachttisch inzwischen aufgefallen. Er fragt sich, wie Kaden überhaupt unbemerkt das Schlafmittel in die Gläser getan hat. Jakub vermutet, dass er sich vor der Ankunft von Sarah und Oliver Zutritt in die Wohnung verschafft hat. Es kann auch sein, dass er sie dazu gezwungen hat.

Ich will mir gar nicht vorstellen, wie groß ihre Angst gewesen sein muss. Jakub streckt einen Arm nach Oliver aus und berührt ihn an seiner rechten Schulter. Wie zu erwarten keine Reaktion. Ich muss es unbedingt beenden. Es sei denn, ich werde draufgehen. Jakub beschließt, ihn in das Wohnzimmer zu bringen. Die Decke findet sich als zusammengeknüllter Haufen am Ende wieder. Er schiebt die Arme unter dem kindlichen Körper und hebt ihn mühelos hoch. Ein warmes Gefühl blüht in Jakub auf, und zum ersten Mal kann er sich von den finsteren Gedanken trennen. Ein zögerliches Lächeln tastet sich auf die Lippen, während er Oliver zum Wohnzimmer trägt. Unbewusst schmiegt sich der Junge an ihn und umklammert das Kuscheltier fester. Wenigstens schaffst du es, mich ein wenig aufzuheitern.

Das Wohnzimmer ist verhältnismäßig groß. Ein paar Lichterketten in den Schränken strahlen fahriges Licht aus, das nicht einmal ein Viertel des Raumes ausfüllt. Jakub wirft einen Blick zu der gemütlich wirkenden Couch. Aufgewühlte Decken und eine Handvoll Kissen. Er zählt vier, die an der Lehne thronen. Jakub geht schweigend an der Essecke vorbei, achtet darauf, nicht den Stuhl des provisorischen Schreibtisches anzustoßen. Ein gläserner Tisch steht direkt vor der hellen Couch, als Jakub zu diesem geht und Oliver behutsam ablegt. Kein Geräusch von ihm; er schläft weiterhin tief. Der Pole bastelt ein Bett zusammen, indem er eines der Kissen unter Olivers Kopf schiebt und ihn in die dünne Decke wickelt. Ein nahezu lautloser Seufzer entweicht ihm. Er streicht dem Kind durch das Haar, ehe er sich von ihm entfernt.

Ein Atemzug entfernt IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt