6. Kapitel

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Tobias

Vincent saß vor mir, starrte ins Leere und war gut darin all meinen Fragen auszuweichen.
Während meiner Ausbildung war ich einer der besten im Verhör gewesen und nun bekam ich auf ein Mal nichts mehr aus einem Jungen heraus.
Ich beugte mich über den Tisch, sah ihm direkt in die Augen, zumindest hoffte ich, dass er mich wahrnahm.
»Herr Stein, ich muss Sie bitten mir die Frage zum Hergang des Unfalls zu beantworten. Was hat sich genau zugetragen?«
Doch auch diesmal erwiderte er nichts, kein Zucken, Blinzeln, nichts.
Ich erhaschte einen Blick zu meinem Kollegen, welcher in einer der Ecken stand und die Szene schweigend verfolgte.
Plötzlich hob der Junge den Kopf, starrte mich mit diesen toten, leeren Augen an.
»Ich will zu Dag.«, es war kaum mehr als ein Hauchen, so zerbrechlich und leise, dass ich es fast nicht wahrgenommen hätte und erst in dem Moment fiel mir so richtig die Statur, das Gesicht von ihm auf.
Dürr, nur ein Skelett bedeckt mit ungepflegter Haut, die Augen lagen in ihren Höhlen, schienen größer, so verdammt ungesund, und die Wangen waren eingefallen als hätte er wochenlang nichts zu sich genommen.
»Warum haben Sie so stark abgenommen?«, kam dann die Frage schneller aus meinem Mund als ich es eigentlich wollte.
Er schien kurz überrascht, hatte damit nicht gerechnet, doch schüttelte dann nur leicht mit dem Kopf.
»Wissen Sie, Sie können nicht ewig meinen Fragen aus dem Weg gehen.«, seufzte ich, fuhr mir durch die zu langen Haare.
Ich musste zum Frisör.
»Ich will zu Dag.«, wiederholte er den Satz abermals.
Ich blickte nach hinten zu Kommissar Hoffer, welcher nur nickte.
»In Ordnung, dann werde ich zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf Sie zukommen, Herr Stein.«
Jener blinzelte nur, wohl ein Zeichen dessen, dass er es verstanden hatte, ehe er hinausging, wobei ich einfach nicht meine Augen von seinem viel zu dünnen Rückgrat nehmen konnte.

Ich gehe hinein, in sein Intensivzimmer.
»Hallo.«, begrüße den Arzt, der sich gerade ein paar Notizen auf deinem Klemmbrett macht.
»Wie geht es dem Jungen? Weiß man schon, ob die Geschichte mit der Treppe stimmt?«, während ich das frage, stelle ich mich vor sein Bett, schaue auf den Abiturienten, der nun in einer Welt zwischen Himmel und Hölle sein wird.
Irgendwie absurd, nicht wahr?
»Der Zustand verschlechtert sich stetig, wir müssen von Hirnblutungen ausgehen. Und wegen der Geschichte mit der Treppe, der Junge ist ganz bestimmt nicht gestürzt, dass kann ich ihnen versichern.«
Der Arzt sieht mich an, nicht verunsichert viel mehr voller Wut.
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine, dass man hier versucht die Wahrheit bis ins kleinste Detail zu vertuschen. Ich weiß zwar nicht warum, aber es muss etwas schlimmes sein, wenn man sogar ein solches Opfer bringt.«, sein Blick wandert zu dem Jungen, als er die letzten Worte ausspricht.
»Bei Niklas war es die selbe Scheiße.«, flüstert er noch, ehe er aus dem Raum hastet.
Ich schaue auf die geschlossenen Augen von ihm.
»Was weißt du was ich nicht weiß, mein Junge?«

Ende von Kapitel 6.

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