VIER

54 3 0
                                    

Ava P.o.V.

Nachdem ich mich aus dem Zimmer in das Gemeinschaftsbadezimmer schlich, stellte ich fest, wie fertig ich aussah. Meine Haare rochen nach Rauch, meine getuschten Wimpern waren verschmiert.  Außerdem war mir kotzübel. Da ich ja schlecht das T-Shirt des fremden Typens anbehalten konnte, zog ich mein schwarzes Kleid wieder an, welches nach einer Mischung aus Miss Dior und Vodka-Cola roch. Große Klasse. Noch immer halb benommen öffnete ich fast lautlos die Tür des Zimmers, in dem ich aufwachte, um das T-Shirt zurück zu legen. Glücklicherweise wachte keiner auf. Auf dem Weg zur Haustür stieg ich über Plastikbecher, Klamotten und Taschen. Durch das gesamte Haus zog sich eine stickige Luft, es roch nach Alkohol, Sex und Weed. So wie es hier aussah, könnte man auch glauben, dass hier die Party stattfand. Ich muss dringend herausfinden, was gestern alles so passiert ist und neben welchem Typen ich aufgewacht bin. 

Zum Glück war mein Wohnheim keine fünf Minuten entfernt, so schaffte ich es noch, mich kurz abzuduschen. In frischen Klamotten, aber noch immer völlig verwirrt und totmüde, machte ich mich auf dem Weg zur ersten Vorlesung. Im Gegensatz zu gestern wirkte der Campus fast gespenstisch leer, nur vereinzelt sah man Leute, die meisten davon schienen ähnlich verkatert und fertig wie ich. Im Hauptgebäude angekommen, sah ich plötzlich den Dekan mit dem selben Mann und der Frau wie gestern. Bitte lass sie mich nicht sehen! Ich spürte, wie die Röte in mein Gesicht schoss. Es war gerade einmal mein zweiter Tag und schon sind mir so viele peinliche Sachen passiert. Na, wenn das mal kein guter Start in das Studentenleben ist. Tja, hättest du weniger getrunken und wärst du nicht in Unterwäsche durch dein Zimmer getanzt, wäre nichts passiert, ermahnte mich mein Unterbewusstsein.

Ich verdrängte die Vorwürfe meines Unterbewusstseins und redete mir ein, dass das zum Studentenleben dazu gehöre und das alles halb so tragisch sei. Da die Vorlesung alles andere als spannend war, schweife ich mit meinen Gedanken jedoch immer wieder ab. Wer ist Mr. Caruso? Auch, wenn ich ihn nur für knapp zwei oder drei Minuten gesehen habe, sah ich ihn in meinen Gedanken immer und immer wieder. Selten hatte ich mich eine Person, welche ich nur so kurz gesehen habe, derart fasziniert. Dabei wäre es doch viel wichtiger, herauszufinden, neben welchem jungen Mann ich aufgewacht bin und was noch so passiert ist. Irgendwas war noch, das spüre ich - doch dank den vielen Tequilashots erinnere ich mich an die letzten Stunden nur noch sehr lückenhaft.

Um meinem noch immer ermüdeten Gehirn auf die Sprünge zu helfen, scrolle ich durch die Galerie meines iPhones. Entgegen meiner Erwartung waren die ersten Fotos sogar noch einigermaßen ansehnlich. Joel und Aubrey hatten selbstverständlich schon viele Leute kennengelernt und mir diese vorgestellt. Palina, Dave, Luke, Phil. Und Simon und Sophie? Nach und nach versuchte ich langsam die Nachrichten auf meinem Handy zu sortieren. Allein von Aubrey hatte ich sechs Nachrichten und vier verpasste Anrufe. Hoffentlich hat sie noch mehr Erinnerungen als ich!

Nach der ersten Vorlesung, von der ich jedoch nur wenig mitgenommen habe, traf ich mich mit  Aubrey draußen auf dem Campus. Während ich nur einen unordentlichen Dutt und einen Oversized Pulli über eine schwarze Skinny Jeans trug, sah Aubrey wie aus dem Ei gepellt aus. Ihren roten Longbob hat sie geglättet, ihr dezentes Make Up passte perfekt zu ihrem minigrünem Rüschkleid. 

»Dich hat der Himmel geschickt!«, sagte ich, als ich die Bagel und die Kaffees in ihrer Hand sah. »Haha, immer gern doch! Möchtest du einen normalen Kaffee mit ein wenig Milch oder einen Latte Macchiato mit Vanillegeschmack?«

»Der normale reicht, danke.« Aubreys breites Grinsen verriet mir, dass sie sich über meine Entscheidung freute. Es war verrückt, dass wir uns erst seit einem Tag kennen - denn es fühlte sich so vertraut und herzlich an. »Bitte sag mir, dass du noch mehr von der Nacht weißt als ich!« Der perfekt gestylte Rotschopf brach in ein schallendes Gelächter aus. »Oh Honey, ihr habt euch aber auch alle abgeschossen. Ich meine, ich war auch nicht gerade nüchtern.. aber ihr«,  Aubrey stoppte für einen Moment und setzte ihre Sonnenbrille auf, »Der Beginn war ja noch harmlos und tatsächlich haben wir ja ein paar coole Leute kennengelernt. Doch irgendwann ist es eskaliert. Palina, dass ist die kleine, zierliche mit den dunklen Haaren, du und noch zwei weitere Mädels habt ziemlich anzüglich zu "Toxic" und anderen Britney Songs getanzt und irgendwann rief ein Idiot "Ausziehen". Palina, welche ja diesen Zweimeter-Freund hat, war dann wirklich dabei ihr Top hochzuziehen, doch da hatte ihr Freund dem anderen schon eine reingehauen. Dummerweise war ihr dann übel und ihr Freund...okay, ich erspare deinem Magen die Details.«  Es ist typisch für mich - nach ein, zwei Cocktails ist die Tanzfläche meine. »Oh Shit, der Arme. Hab ich was gemacht?« »Nein, keine Sorge. Du hast dann noch ganz normal mit Luke, Phil und mir getanzt. Auch, wenn ich dachte, dass Luke und du jeden Moment rummachen würdet. Oder habt ihr das noch? Ich meine, er ist echt heiß!« Warte, was? Der Typ, neben dem ich aufgewacht bin, hatte eindeutig brünettes Haar - oder war es dunkelblond? »Ava?«, hakte Aubrey nach. »Ich bin tatsächlich neben einem Typen aufgewacht«, gestand ich. »Super! Hatte gestern eigentlich jeder Spaß außer ich?!«, fragte Aubrey gespielt enttäuscht. Oh, scheinbar war ich also nicht die Einzige. Irgendwie beruhigte mich der Gedanke. In meiner Kleinstadt waren Personen, welche auf einer Party auch nur eine andere Person, mit der sie nicht zusammen waren, geküsst haben, noch Wochen danach das Gesprächsthema. Insbesondere dann, wenn du ein Mädchen oder eine Frau bist. Traurig, dass wir selbst im 21. Jahrhundert so schnell als "Schlampen" abgestempelt werden.

»Meinst du, es war Luke?«, fragte Aubrey mit weit aufgerissenen Augen. »Ich denke nicht. Auch, wenn das Zimmer abgedunkelt war, war deutlich zu erkennen, dass er eher brünettes Haar hatte. Außerdem trug er einen Undercut, denk ich.« Luke hingegen hatte leichte Locken und diese nach hinten gegelt. Dazu kommt, dass er diesen perfekten Blondton hat, von dem die meisten Blondinen nur träumen können. 

»Super, zum Glück ist deine Beschreibung so detailliert! Gefühlt die Hälfte der Männer hier trägt einen Undercut. Vielleicht kommen ja deine Erinnerungen wieder, wenn er dir im Flur über den Weg läuft.« Bei dem letzten Satz verschluckte ich an meinem Kaffee. »Ist was?«, fragte Aub irritiert. Bei dem Gedanken an meine unangenehme Begegnung mit dem Rektor, der Sekretärin und diesem unverschämt gut aussehenden Mann spürte ich erneut, wie die Röte in mein Gesicht schoss. Es blieb mir wohl nichts anderes über, als Aubrey die Story zu erzählen. Doch das war okay für mich, denn sie gehörte zu der Art Mensch, die man einfach nur mögen konnte. Sie gab Menschen sofort das Gefühl, willkommen zu sein, hatte immer einen Spruch parat und eine gleichermaßen lockere und herzliche Art. »Ach, ganz ehrlich: letzten Endes wird es ihm als Kopf der Universität tausendmal unangehmer sein als dir! Außerdem bist du wunderschön - ob er dir am Strand über dem Weg läuft und dich im Bikini sieht oder halt so.«

Noch ehe ich antworten konnte, kam Phil auf uns zugerannt. Völlig außer Atem schrie er: »Leute, ihr glaubt nicht, was passiert ist!« Aubrey sah ihn genauso fragend an wie ich es tat. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass nichts Gutes passiert ist. »Zach liegt im Krankenhaus. Er hat sich mit einem anderen angelegt und wurde ganz schön mies zusammengeschlagen.« »Oh mein Gott!«, antworten Aub und ich synchron.

Zach. Ich erinnerte mich. Er war der Typ, der hier in der Gegend zu den angesagtesten DJs gehört und außerdem an der Marson studiert. Da er knapp 100.000 Follower auf Instagram hat, ist er scheinbar jedem hier ein Begriff. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir gestern noch Flunkyball gespielt.

»Wie schrecklich! Wie ist das denn passiert?« Beide sahen mich mit großen Augen an. »Ava, du solltest eine Sache über San Albay wissen: hier in der Region regieren zwei große Clans, die Martinez und Collucis.« Im Gegensatz zu mir stammen beide aus der Region, Aubrey aus dem 40 Minuten entfernten Fort Eversdale und Phil aus einer Vorstadt San Albays. Somit wussten sie genau Bescheid, was passiert.

»Auch wenn es noch nicht bestätigt ist, deutet alles auf ein Angriff der Martinez hin. Zumindest, wenn man manchen Zeugen Glauben schenken mag«, erklärte Phil. Gibt es hier wirklich Gangs und Clans? Ich kannte sowas bisher nur aus Serien und Reportagen. In meinem Kaff gab es zwar eine Menge an Kleinkriminellen, welche am Bahnhof oder vor Clubs mit Drogen tickten, doch Gangs gab es keine. 

Egal, wo ich hinhörte, immer und immer wieder schien es um Zach und mafiöse Geschäfte zu gehen. Wie mir eine Kom­mi­li­to­nin erzählte, seien die meisten Clubs, Casinos und Bars in Besitz organisierter Clans und jegliche Drogen, die man hier kaufen könnte, seien entweder von den Martinez oder Collucis. Ich fragte mich, was Zach damit zu tun hat. War er wirklich in solche Geschäfte verwickelt? Wenn ja, was war seine Position? Außerdem ist er doch ein recht erfolgreicher DJ und Student - warum sollte er was mit solchen Leuten zu tun haben?



Lost & found - The Way we goWo Geschichten leben. Entdecke jetzt